Der Chor im Thingspiel - Zur Form- und Funktionsgeschichte kollektiver Auftrittsformen im nationalsozialistischen Theater
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das NS-Massentheater, so das Ergebnis der inzwischen abgeschlossenen und als Habilitationsschrift an der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Projektstudie, wandelt sich von der performativen Volksbildung zur kalkulierten Vergemeinschaftung des Blicks von oben, der Vogel- als fingierter Führerperspektive. Dies korrespondiert mit der Entwicklung veränderter Subjektivierungspraxen und chorischer Darstellungsformen, zeugt mithin vom zeitgenössischen Dispositivwechsel der NS-Propaganda. Lässt sich das frühe, von Teilen der künstlerischen Avantgarde mitinitiierte NS-Massentheater, das Thingspiel, als moderner Versuch einer Abkehr von der Guckkastenbühne und den Darstellungsmodi des Dramas bestimmen, wird dieser Versuch mit eigens gebauten Architekturtheatern im Freien um 1936 von der massenmedialen Entwicklung und den veränderten innenpolitischen Propagandaerfordernissen überrollt. Während man die Volksfigur auf der Bühne durch ornamentale Bewegungschöre ersetzt, die verwendeten ausdruckstänzerischen Elemente ihrer kultischen Ausformung entbindet, den Sprechchor verbietet und die Massendarstellungen ins Stadion zurückverlegt, erfährt das Thingspiel in Österreich 1938 zwar eine spezifische Wiederbelebung als Re-enactment. Dabei allerdings wird es seiner avantgardistischen Formaspekte entkleidet, der konträren Massenspiel-Ästhetik der Rosenberg-Fraktion angenähert und ins österreichische ,Naturtheater’ übersetzt. Danach löst die Personalisierung der Volksgemeinschaft im Film die unterschiedlichen Formen der NS-Massenspiele ab. Aus komparatistischem Blickwinkel arbeitet das transdisziplinäre Projekt die Formdifferenz von Massenregien der Zwischenkriegszeit heraus, setzt das Gefolgschaftstheater der Nazis in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zur Medienentwicklung in Beziehung und bestimmt die jeweiligen Formzitate. An ausgewählten Inszenierungen, Texten und theoretischen Entwürfen der Thingbewegung zeigt es das spezifische Problem der Massen- als vertikalisierter Gefolgschaftsdarstellung, die zunächst theaterrevolutionäre ebenso wie konkurrenzfaschistische Modelle aufgreift sowie das nationale Fest- und das katholische Passionsspiel zitiert, um beim lebenden Ornament und einer vom Revuefilm geprägten, ideologisch aufgeladenen Perspektivführung anzukommen. Das NS-Massentheater erweist sich so auch als früher Indikator für die Abwendung von einer disziplinargesellschaftlichen Ästhetik. Vor diesem Hintergrund fragt die Studie schließlich auch nach der Relation zur Gegenwartskunst und deren potenziellem Einspruch gegen die behauptete nachhaltige Wirkmacht zu differenzierender Formen der NS-Propaganda.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren. Einar Schleef und das Thingspiel“. In Tigges, Stefan (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im Theater. Bielefeld 2008: Transcript, S. 361-374
Evelyn Annuß
- „Chor und Geschlecht im nationalsozialistischen Theater“. In Krammer, Stefan u.a. (Hg.): Staat in (Un-)Ordnung. Geschlechterperspektiven auf die Zwischenkriegszeit. Bielefeld: Transcript 2011, S. 167-180
Evelyn Annuß
- „Inszenierungen des Kollektivsubjekts im Thingspiel“. In Kreuder, Friedemann (Hg.): Theater und Subjektkonstitution. Ausgewählte Beiträge der Jahrestagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 2010. Bielefeld: Transcript 2012, S. 507-517
Evelyn Annuß
- „Public Movement“. Maske & Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft 1/2012, S. 31-46
Evelyn Annuß
- Das Theater der Hunderttausend historisieren“. Forum Modernes Theater 26/2014: 137-152
Evelyn Annuß
(Siehe online unter https://doi.org/10.1353/fmt.2011.0012) - „Vom Gemeinschaftssound zur vergemeinschafteten Vogelperspektive. Massentheater und Medienumbruch “. In Benz, Wolfgang, Peter
Eckei und Andreas Nachama (Hg.) 2016: Kunst im NS-Staat. Ideologie - Ästhetik - Protagonisten. Berlin: Metropol, S. 191-206
Evelyn Annuß