Das Wissen über Türken und die Türkei in der Pädagogik. Analyse des diskursiven Wandels 1839-1945
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Wie unsere Untersuchungen zeigen, wurde das Osmanische Reich, in den historischen Quellen meist als „Türkei“ bezeichnet, im Laufe des 19. Jahrhundert allmählich zu einem Gegenstand kolonialen Begehrens und imperialistischen Weltmachtstrebens Deutschlands. Dieser Prozess hatte in der Spätaufklärung begonnen und intensivierte sich in der Ära der Tanzimat, den Reformmaßnahmen des osmanischen Staates ab 1839, die auf deutscher Seite mit den Stein- Hardenbergschen Reformen verglichen wurden. Seither mehrten sich Stimmen, zum Beispiel in Lexikonartikeln, zum „türkischen Erziehungswesen“. Für die bildungshistorische Forschung tritt überhaupt erst damit in Erscheinung, dass es auch in der Pädagogik sehr wohl einen Türkenund Türkeidiskurs gab. Seit Inkrafttreten der ersten Verfassung des Osmanischen Reichs 1876 mit ihren Bestimmungen zur Sicherheit des Eigentums sowie der zivilrechtlichen Gleichstellung aller Untertanen veränderte sich die Rezeption auf deutscher Seite; überkommene Vorstellungen wurden differenzierter, und gegenüber dem aus der frühen Neuzeit stammenden Bild von den Türken als „Schrecken des Abendlandes“ kamen Änderungen in Gang, wie mit dem geläufigen Topos vom „kranken Mann am Bosporus“ und der Rede von der „uneigennützigen, nicht auf territoriale Eroberungen ausgerichteten“ Haltung Deutschlands gegenüber der Türkei. In allen Etappen dieses Prozesses und bei allen seinen Wandlungen waren gelehrte Schulmänner, LehrbuchautorInnen und LehrerInnen aktiv beteiligt. In allen unseren im Projekt durchgeführten Studien geht es prinzipiell um die Rückwirkungen vormaliger deutsch-türkischer Bildungsbeziehungen auf der deutschen Seite. Einer unserer Referenzpunkte war von Beginn an Bernd Zymeks Schrift "Das Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion, 1871‒1950" (1975); in ihr geht Zymek anhand einer Auswertung von pädagogischen Zeitschriften mit Auslandsbezug der Entstehungsgeschichte der Vergleichenden Erziehungswissenschaft nach. Die Türkei kommt dabei so gut wie nicht vor. Ganz anders in den Lehrerzeitungen. Nun sind pädagogische Zeitschriften und Lehrerzeitungen nicht dasselbe, aber hier bestand eine Widersprüchlichkeit, der nachgegangen werden wollte. Nach unserer Interpretation liegt einer der Gründe für den bisherigen Mangel an Auseinandersetzung mit der deutsch-türkischen Bildungsgeschichte in Fehlschlüssen, die offenkundig nicht auf Zymeks Schrift selbst zurückzuführen sind, sondern eine Blickverengung im Gefolge ihrer Rezeption darstellen. Diese trug zu dem ökonomistischen Fehlschluss bei, wonach Länder, die in wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht nicht als Vorbilder gelten, für die erziehungswissenschaftliche Forschung imgrunde nicht von Interesse sind. Dieser Fehlschluss wiederum hat zumindest mitbewirkt, dass deutsch-türkische Bildungsbeziehungen als möglicher Gegenstand pädagogischer Historiographie bislang nahezu ausgeschlossen waren. In der Tat spielte die Türkei, mit Ausnahme zu Beginn des NS, zu keiner Zeit eine Rolle als Vorbild für den Modernisierungsfortschritt des deutschen Bildungswesens, im Gegenteil. Anders als zu den USA, Frankreich oder England waren die Bildungsbeziehungen des Deutschen Reichs zum Osmanischen Reich auf eine „Kulturmission“ hin ausgelegt, die den Plan zur Errichtung eines gemeinsamen deutsch-türkischen Wirtschaftsraums unter deutscher Hegemonie bildungs- und kulturpolitisch unterfüttern sollte. Es waren diese auf die Außenhandels- und Wirtschaftsbeziehungen „von Berlin bis Bagdad“ gerichteten expansionistischen Bestrebungen der imperialistischen Ära, mit denen das Deutsche Reich die aus damaliger Sicht kümmerlichen Resultate seiner Kolonialpolitik revidieren und endlich „Weltgeltung“ als Großmacht erreichen wollte. Dieses Projekt hatte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts angebahnt und nahm um 1900 deutlich an Fahrt auf, bis es nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in eine Stagnation des Wissens über Türken und die Türkei mündete, an der die pädagogische Lehrbuchproduktion maßgeblich Anteil hatte. Alle unsere Untersuchungen zeigen anhand je unterschiedlicher Quellengattungen (Schulbücher, pädagogische und Massenpresse, historische Fachzeitschriften, Egodokumente), wie sich Protagonisten aus Lehrerschaft, Kulturpolitik, Wissenschaft und Publizistik aktiv an jenem Projekt beteiligten. Die Erkundung dieses Kapitels deutscher (Semi-) Kolonial- und Bildungsgeschichte haben wir begonnen. Beendet ist sie damit keineswegs.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- La imagen de Turquía y los turcos en la prensa pedagógica alemana entre 1820 y 1930. In: La prensa pedagógica de los profesores. Editor: José María Hernández Díaz. Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 2018, S. 291–302
Ingrid Lohmann, Christian Roith
- Deutsch-türkischer Bildungsraum um 1918 – Akteure, Visionen und Transformationen. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung. Hrsg. Sektion Historische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Bd. 25 (2019), S. 114–159. ISBN 978-3-7815-2326-5
Julika Böttcher, Sylvia Kesper-Biermann, Ingrid Lohmann, Christine Mayer
- Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert. Pädagogik – Bildungspolitik – Kulturtransfer. Bad Heilbrunn 2021, ISBN 978-3-7815-2436-1 (Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte; 1)
Ingrid Lohmann, Julika Böttcher (Hrsg.)
(Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:21928) - Auf dem Weg ins Türkische Reich. Ein bildungshistorisches Lesebuch. Bad Heilbrunn 2022, ISBN 978-3-7815-2519-1 (Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte; 2)
Ingrid Lohmann und Julika Böttcher (Hrsg.)
(Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:24829)