Erziehungswissenschaften
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Diese erste Bearbeitung des Feldes – insgesamt wurden bislang 45 nationale Verfassungen gesichtet – führte zu mitunter überraschenden Ergebnissen. Insgesamt wurde bei dieser Untersuchung die Vielfalt möglicher Kombinationen von Inklusionsstrategien, politischen Rechten und Schulpolitik deutlich. Ein zentraler Befund ist, dass die angenommene Allgegenwärtigkeit der Verbindung von Alphabetisierung und Wahlrecht widerlegt werden konnte. Am augenfälligsten war hier Argentinien, wo sich diese Regelung auf nationaler Ebene faktisch nie etablieren konnte, obwohl sie in den Verfassungen einzelner Bundesstaaten durchaus vorhanden war. Ein weiteres Beispiel ist Mexiko, wo es bereits 1857 zu einer Absage an diese Verbindung kam, während klientelistische und betrügerische Wahlpraktiken inflationär zunahmen. Auch in Kolumbien kam es zu komplexen Entwicklungen. Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass das Alphabetisierungskriterium – anders als oftmals angenommen – nicht in jedem Fall ein Instrument politischer Exklusion war: Wenngleich in den meisten Fällen die Lese- und Schreibfähigkeit mit einer bestimmten Steuerleistung kombiniert wurden (Zensuswahlrecht), konnte eine interessante Gruppe von Verfassungen identifiziert werden (Großkolumbien, Bolivien und Buenos Aires in den 1820er Jahren), die das Zensuskriterium entweder sehr niedrig ansetzten oder überhaupt nicht kannten. Gleichzeitig gab es in diesen Ländern relativ intensive und konsistente Bemühungen, die Elementarschulbildung möglichst inklusiv zu gestalten. Hier haben wir es also mit einer radikal-liberalen Kopplung von Wahlrecht und Alphabetisierung zu tun, die sich nicht damit erklären lässt, das Alphabetisierungskriterium sei nur ein Vorwand bestimmter Eliten gewesen, um weite Teile der Bevölkerung von der politischen Teilhabe auszuschließen. Über die genannten Punkte hinaus wurden im Rahmen des Projekts weitere bildungsbezogene Kriterien für die Ausübung des Wahlrechts – wie beispielsweise die in verschiedenen zentralamerikanischen Verfassungen geregelte Wahlberechtigung von Männern unter dem wahlfähigen Alter nur bei Nachweis höherer Bildung – zum ersten Mal angemessen gewürdigt. In Fortführung der genannten Analyseperspektiven beabsichtigt das Projekt, die Politisierung der Schulbildung in Lateinamerika anhand aussagekräftiger Beispiele vertieft zu untersuchen. Gemeint sind hier drei Länder, die verfassungsrechtlich jeweils eine andere Entwicklung nahmen, ethnisch unterschiedlich zusammengesetzt waren und von einer „verspäteten“ Entwicklung eines Elementarschulsystems gekennzeichnet waren: Brasilien, Kolumbien und Peru. Dabei handelt es sich nicht nur um besonders große Länder der Region. Vielmehr liegen dieser Auswahl auch signifikant unterschiedliche Problemkonstellationen zugrunde. Politisch zeigen sich die Unterschiede erstens in den jeweiligen Verfassungsordnungen: Während Brasilien bis 1889 eine Monarchie war, erhielten Peru und Kolumbien schon bald nach ihrer Unabhängigkeit eine republikanische Regierungsform. Zweitens gab es auch hinsichtlich des Zeitpunkts und des Kontexts der Einführung der Kopplung von Wahlrecht und Alphabetisierung bedeutende Unterschiede: die frühe und konsistente Einführung im Rahmen der Staatsgründung (Peru), wechselnde, nach Parteimehrheiten variierende Vorgaben (Kolumbien) sowie die späte, nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 erfolgte Einführung (Brasilien). Drittens zeigt sich die Verschiedenheit der drei Länder auch in der für die soziale Schichtung und kulturelle Hierarchie entscheidenden Frage der „ethnischen“ Zusammensetzung der Bevölkerung: Indio-Mehrheiten in Peru, eine große Sklavenbevölkerung in Brasilien, keine eindeutigen Mehrheiten von „Weißen“, mestizos, Indios und befreiten Schwarzen in Kolumbien.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Literacy and Suffrage. The politicisation of schooling in postcolonial Hispanic America (1810-1850)“ in: Paedagogica Historica 46:4 (2010), 463-478
Marcelo Caruso
- „Technologiewandel auf dem Weg zur 'grammar of schooling'. Reform des Volksschulunterrichts in Spanien (1767-1804)“ in: Zeitschrift für Pädagogik 56:5 (2010), 648-665
Marcelo Caruso