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"Irre" in Hamburg - psychische Devianz auf See und in den Kolonien (1830-1920)
Antragsteller
Professor Dr. Heinz-Peter Schmiedebach
Fachliche Zuordnung
Wissenschaftsgeschichte
Förderung
Förderung von 2008 bis 2013
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 74013535
Die Verkehrs- und Handelsmetropole Hamburg war während des Untersuchungszeitraumes ein international bedeutender Transithafen und maßgebende deutsche Kolonialmetropole der Kaiserzeit. Beide Bereiche - Überseeverkehr und Kolonialismus - erlauben im Rahmen des Verbundprojekts „Kulturen des Wahnsinns (1870-1930)" in exemplarischer Weise den methodischen Zugriff auf das Thema mit Hilfe der heuristischen Kategorien „Schwellenphänomen" und „Schwellenraum". In Hamburg werden durch die Berührungspunkte von psychiatrischem Diskurs, medialer Kultur und hanseatischen Überseeaktivitäten Personengruppen greifbar, die in anderen deutschen oder auch europäischen Städten gar nicht oder nur schwer nachweisbar sind. Im Rahmen des Projekts werden in einer ersten Phase (seit April 2006) die sog. „geisteskranken Rückwanderer" untersucht, die nach ihrer Ausweisung aus den USA und ihrer Rückkehr nach Hamburg in der städtischen Irrenanstalt Friedrichsberg behandelt wurden. Als zweite Patientengruppe werden diejenigen progressiven Paralytiker betrachtet, die nach dem Ersten Weltkrieg in Hamburg der Malaria- bzw. Fiebertherapie unterzogen wurden. Hier wurde der Diskurs über den Wahnsinn, speziell zur progressiven Paralyse, in einer komplementären Weise zwischen der Irrenanstalt Friedrichsberg und dem (nach Verlust der deutschen Kolonien) nach neuen Funktionen suchenden Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten (Hamburger Tropeninstitut) verdichtet, was auf die Besonderheiten der Forschungslandschaft und Wissenschaftskultur Hamburgs als einer bedeutender europäischen Kolonial- und Verkehrsmetropole verweist. Ziel des Projekts ist die Erstellung eines speziellen Hamburger Tableaus psychiatrischer Praxis und urbaner Diskurse, welche die Figurationen des Wahns im Untersuchungszeitraum bestimmten und durch eine besondere maritim-koloniale Komponente gekennzeichnet waren. So sollen in der zweiten Phase des Projekts (ab 15. April 2008) weitere Patientengruppen analysiert werden, die diesen maritim-kolonialen Aspekt in signifikanter Weise repräsentieren. Dabei geht es vor allem um die Heizer und Trimmer (Kohlenzieher) auf Hamburger Ozeandampfern, deren zahlreiche Selbstmorde durch Überbordspringen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weite Teile der Öffentlichkeit erregten. Und es geht um Offiziere, Soldaten und sonstige Bedienstete der deutschen „Schutztruppen" in den afrikanischen Kolonien, die aufgrund psychischer Auffälligkeiten nach Europa zurückgeschickt wurden und nach ihrer Landung in Hamburg in der Irrenanstalt Friedrichsberg vorläufige Behandlung fanden. Es bestand ein eigenes psychiatrisches Interesse am Auftreten des Wahns in den Tropen, das auch vom wissenschaftlichen Wunsch angetrieben wurde, neue Aufschlüsse zum Wahnsinn in Europa zu erhalten. Die Schnittstellen zur „Ethnopsychiatrie" sind bei der Rekonstruktion neuer epistemologischer Figurationen des Wahnsinns ebenfalls zu berücksichtigen. Die genannten Patientengruppen waren in spezifischer Weise mit dem Phänomen des Schwellenraumes konfrontiert; die dabei entstandenen psychischen Phänomene unterschiedlichster Art verlangten neue Grenzziehungen im Hinblick auf den modernen Wahnsinn.
DFG-Verfahren
Forschungsgruppen