In der Obhut königlicher Ahnen: Untersuchungen zur Entwicklung der Sakalava-Königreiche und ihrer Rituale im Westen Madagaskars
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Zentrum der aktuellen ethnologischen Forschung steht u.a. das Bemühen um ein tieferes Verständnis der modernen Transformationsprozesse im Kontext sehr unterschiedlicher sozio-kultureller Bedingungen und Voraussetzungen. Ziel des Projektes war die Ausarbeitung eines detaillierten Fallbeispiels, der über die mannigfaltigen spezifischen Erkenntnisse hinaus einen differenzierten Beitrag zu der gegenwärtigen Theoriediskussion leisten kann. Spezifischer Gegenstand der dreijährigen Forschungsarbeiten war eine heute „Sakalava" genannte sozio-kulturelle Formation, deren regionaler Schwerpunkt im Westen Madagaskars und aufder benachbarten Insel Mayotte liegt. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Gesellschaft ist die Bedeutung der ehemaligen Herrscherdynastie für die Vorstellungen von Identität und Entscheidungsfindung, wie sie insbesondere über aufwändige Rituale oder durch das Phänomen einer intensiven Geistbesessenheit formuliert werden. Vor dem Hintergrund des durch vergleichsweise isolierte Einzeluntersuchungen geprägten Forschungsstandes wurde in einer Kombination von ausgedehnten Literaturforschungen, Archivaufenthalten und drei Feldforschungen erstmals eine systematische Untersuchung der vierhundertjährigen Gesellschaftsentwicklung durchgeführt. Folgende Arbeitsergebnisse sind hervorzuheben: • Die erstmalige Dokumentation der zentralen territorialen Strukturen der Sakalava-Gesellschaft entlang der Westküste Madagaskars und auf Mayotte in Form von zwei übergeordnete Einheiten („Königreichen"), 40 bislang kaum bekannten Substrukturen sowie ca. 50 zugehörige Tempel oder Schreine. • Die substantielle Bearbeitung bedeutender ethnographischer und historischer Kenntnislücken für mehrere Regionen und Zeitabschnitte. Zu erwähnen ist insbesondere die Dokumentation einer ganzen Reihe bislang unbekannter Rituale, Reliquienschreine und Reliquien sowie dynastischer Territorien, vor allem im Ambongo-Mailaka-Gebiet. • Die Feststellung eines überraschend vielschichtigen Wandels von Gesellschaft und Identität im Rahmen synthetischer und historisch-kritischer Untersuchungen. Über eine Vielzahl von Etappen sind die ehemals politisch-territorial konzipierten Königreiche, deren multiethnische Bevölkerung nur durch die Oberhoheit des gemeinsamen Königs zusammengehalten wurde, zu einer eigentümlichen Form von „Religion" geworden, ausgerichtet auf die Verehrung der königlichen Vorfahren in einem multinationalen Kontext. • Die Bedeutung der Rituale und zugehörigen Erinnerungspolitik für die Konstruktion von sozio-kultureller Kontinuität. Die beispielhafte Ausarbeitung des kompletten - vierhundertjährigen - Entwicklungsstrangs der Sakalava-Gesellschaft auf Madagaskar ist ein Grundlagenbeitrag zur Diskussion der Umgestaltung traditionaler Gesellschaften im Rahmen moderner Transformationsprozesse.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2008 (Rezension zu:) Sophie Goedefroit und Jacques Lombard: Andolo. L'art funéraire Sakalava a Madagascar. Singapur: IRD und Biro éditeur 2007. 239 S., 173 Abb. In: Paideuma 54, 280-283
Peter Kneitz
- 2008. Im Land ,dazwischen': Die Sakalava-Königreiche von Ambongo und Mailaka (westliches Madagaskar, 17.-19. Jahrhundert). In: Anthropos 103 (1), 35-64
Peter Kneitz