Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt landwirtschaftlicher Familienbetriebe Süd- und Mittelbadens im Kontext der Beschäftigung osteuropäischer Saisonarbeitskräfte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Jedes Jahr machen sich über 300.000 Frauen und Männer überwiegend polnischer Herkunft auf den Weg nach Deutschland, um als Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer in der Landwirtschaft zu arbeiten. Dies hat zu weitreichenden Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelt der bäuerlichen Betriebe gefuhrt. Ziel der vorliegenden Studie war es, die unter dem Einfluss dieses temporären Arbeitsmigrationssystems erfolgten Veränderungen in landwirtschaftlichen Familienbetrieben in diesem Gebiet in ihrer qualitativen und insbesondere auch geschlechtsspezifischen Dimension in den Blick zu nehmen. Dabei wurden Fragestellungen aus der Geschlechterforschung mit agrarsoziologischen Analysen des sozialen Wandels auf dem Lande und Erkenntnissen der Migrationsforschung verknüpft. In der Untersuchung haben sich dabei bestimmte Bereiche und Felder herauskristallisiert, die im Zuge des neu entstandenen Systems der temporären Arbeitsmigration einen besonders deutlichen Wandel erfahren haben. Ein erster wichtiger Bereich betrifft Form und Organisation der Arbeit. Während die Arbeitsbelastung als solche, so belegen die durchgeführten Interviews, mit der Verfügbarkeit dieser flexiblen und kostengünstigen Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa für die Bauern und Bäuerinnen nicht geringer geworden ist, so hat sie sich doch stark in ihrem Charakter verändert. Enorm an Bedeutung gewonnen haben organisatorische und kommunikativ-koordinierende Aufgaben, die nicht nur neue Kenntnisse der Verwaltung und des Personalmanagements erforderlich machen, sondern auch ein beträchtliches Maß an sozialer und interkultureller Kompetenz verlangen. Es ist mitunter diese soziale und kulturelle Komplexität der Ansprüche, die auch neue Arten von Stress und Belastung im bäuerlichen Betriebsalltag generieren. Neben der Entstehung neuer Arbeitsfelder und -anforderungen lässt sich zweitens eine Veränderung der sozialen Dimension von Arbeit feststellen: unspezifizierte gemeinschaftliche Arbeit ist einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Arbeitsfelder in den landwirtschaftlichen Betrieben gewichen, bei deren Strukturierung Geschlecht offensichtlich eine wichtige Rolle spielt. So übernehmen insbesondere Bäuerinnen einen großen Teil der neu entstandenen Aufgaben im Hinblick auf die Betreuung und Organisation der beschäftigten Saisonarbeitskräfte. Darüber hinaus zeichnen Frauen drittens oft auch verantwortlich für eine Vielzahl der Aufgaben, die im Graubereich zwischen Familienversorgung und Personalmanagement Hegen, wie etwa die Einteilung der Arbeitsbereiche bei der Feldarbeit und deren praktische Kontrolle, sowie für komplexe Aufgaben der Betreuung und des Konfliktmanagements. Die Bäuerinnen spielen insgesamt eine zentrale Rolle in der Ausgestaltung der Beziehungen mit den polnischen Saisonarbeitskräften und leisten dabei ein beträchtliches Maß an emotionaler und sozialer „Beziehungsarbeit", die einen wichtigen - wenn auch oft versteckten - produktiven Aspekt in diesem temporären Arbeitsmigrationssystem darstellt. Einerseits setzen diese Veränderungen in der Arbeitswelt auch neue emanzipatorische Spielräume für die Frauen frei, die jedoch andererseits mit hohen Flexibilisierungsleistungen und Arbeitsbelastungen verbunden sind und daher auch gewisse soziale und familiäre Kosten mit sich bringen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2006): Einwanderer, Einwanderung. In: Albert Scherr (Hrsg.) Soziologische Basics. Eine Einführung für Pädagogen und Pädagoginnen. Lehrbuch. Wiesbaden: VS- Verlag, S.35-41
Martina Grimmig