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Reise – Schiffbruch – Gefangenschaft. Mitleid in der iberoromanischen Autobiographie der Frühen Neuzeit

Antragsteller Dr. Dirk Brunke
Fachliche Zuordnung Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung Förderung seit 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 494081746
 
Das Projekt geht von der Beobachtung aus, dass die Narrativik der frühneuzeitlichen Iberoromania, insbesondere ein Textkorpus, das sich aus dem Schrifttum der Expansionszeit speist, eine spezifische Konfiguration von Mitleid aufweist. Im Zentrum der Analyse stehen Reise-, Schiffbruch- und Gefangenschaftsberichte der iberischen Expansionszeit, deren erzählte Leiderfahrungen in den Dienst einer Mitleidserregung gestellt werden. Teils explizit, teils implizit wird das Auslösen von Mitleid als wirkungsästhetischer Effekt bestimmt, also eine Affektrhetorik verfolgt, die für die frühneuzeitliche Kultur in Europa vornehmlich im Hinblick auf die Tragödie, die Elegie sowie die Passionsthematik theoretisiert und untersucht ist.Das Literatursystem der spanischen und portugiesischen frühen Neuzeit grenzt sich davon jedoch ab. Unter dem maßgeblichen Einfluss von Lope de Vegas Dramenpoetik Arte Nuevo (1609) erhält die Mitleidserregung im Theater keine zentrale Relevanz. Im Unterschied zum restlichen Europa ist auf der Iberischen Halbinsel somit eine Absenz dramatischer Mitleidsrhetorik, auch im poetologischen Diskurs zu verzeichnen. Dieser Mitleidsleerstelle im Hinblick auf die Dramatik steht eine auffällige Mitleidspräsenz in der Narrativik gegenüber.In historischer Sicht greifen die benannten Leiderzählungen zwar die religiös geprägte Zentralstellung von Leid im Kontext der (com)passio-Thematik und der devotio moderna auf, also jener Frömmigkeitsbewegung, die seit dem Mittelalter eine Glaubensfestigung (edificatio) auch über das mitleidige Nacherleben der Passion Christi anstrebt. Anders jedoch als diese spezifisch religiöse Funktionalisierung des Mitleidens machen die Autoren der in Frage stehenden Texte ihre Leiderfahrungen in textpragmatischer Hinsicht nicht für die Glaubensfestigung, sondern für individuelle ökonomische Zwecke nutzbar.Die Affektrhetorik des Mitleids hält also aufgrund pragmatischer Erwägungen Einzug in die Textsorte des Berichts, deren ansonsten ‚nüchterner‘ Charakter nachgerade als affektfrei gelten kann. Das Projekt erschließt demnach Mitleid in einer für die iberische Frühe Neuzeit spezifischen Form, nämlich der Ausgestaltung von Mitleid mit erzählerischen Mitteln. Eine Analyse der eingesetzten Affektrhetorik und ihrer wirkungsästhetischen Dimensionen legt offen, dass sich in den originär nicht der poetischen Dichtung zugehörigen Texten eine literarische Mitleidsdimension öffnet. Schließlich ermöglicht die affektrhetorische Diskursivierung von Leiderfahrungen auf wirkungsästhetischer Ebene, dass das Leiden im Akt der Lektüre affektiv nachvollzogen werden kann, ja dass dem mitleidigen bzw. mitleidenden Leser die Lektüre zu einem ästhetischen Erfahrungsmoment wird. Das Projekt befördert dementsprechend die iberoromanische Affektforschung. Mit seinem innovativen Fokus auf dem Affekt des Mitleids in nicht-fiktionalen, autobiographischen Texten eröffnet sich eine neue Perspektive in der Erforschung frühneuzeitlicher Erzähltexte.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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