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Territorialisierung in der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik: Verschiebungen von Grenzverläufen und Maßnahmen zur Flächendurchdringung von 1918 bis 1941
Antragsteller
Professor Dr. Thomas Bohn
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung von 2020 bis 2024
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 454283236
(a) In der Geschichtswissenschaft bezeichnet Territorialisierung sowohl die herrschaftliche und staatliche Produktion und Durchdringung von Flächen als auch deren Reskalierung und Neuverteilung. Unter dieser Prämisse fordern die am Ende des Ersten Weltkrieges unternommenen Experimente belarusischer Staatlichkeit sowie die Etablierung einer Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) mit ihren Außen- und Binnengrenzen zu einer kritischen Analyse heraus. Diese kann empirische Bausteine zu einer Theorie der Territorialität liefern. Denn hier errichtete Moskau auf einem 1917 noch umrisslosen, kaum definierten Gebiet 1920/21 ein Völkerrechtssubjekt, dessen Fläche nach immensen Erweiterungen 1924, 1926 und 1939 zu einer ethnisch legitimierten Sowjetrepublik avancierte. (b) Die Konstituierung der Sowjetunion mit ihrer am Reißbrett geschaffenen territorial-ethnischen Verwaltungsgliederung verweist nicht nur auf ethnizistisches, sondern auch auf ein bis dato wenig beachtetes geografistisches Denken der Protagonisten ‒ hier bezogen auf eine von ländlichen Räumen geprägte Republik, deren Bevölkerung sich ethnischen, nationalen und sogar geografischen Identitäten gegenüber ambivalent verhielt. Die politischen Strukturen der BSSR befanden sich in einem Spannungsfeld zwischen Eingrenzung und Ausgrenzung, zwischen Sichtbar- und Unsichtbarmachung, zwischen Nationalstaat und einfachem Verwaltungsgebiet. (c) Das Projekt will in einer Monographie untersuchen, wie und warum innere und äußere Grenzen der BSSR neu justiert wurden. Es gilt herauszufinden, welche besonderen Entscheidungen die politischen Akteure der Sowjetunion trafen und welche Auswirkungen dies auf die Titularnation und die ethnischen Minderheiten hatte. Während die Signatarstaaten des polnisch-sowjetischen Vertrags von 1921 bei der Grenzziehung sprachliche und ethnische Kriterien noch nicht berücksichtigten, betrieb die Sowjetunion 1939 beim Anschluss der Ostgebiete der Polnischen Republik (Hitler-Stalin-Pakt) Territorialpolitik unter Verwendung ethnischer Argumente. Dieser Geografismus der Akteure ist als Komplementärideologem zu Kulturalismus und Biologismus anzusehen; er stellt keinen irredentistisch ausbuchstabierten Nationalismus dar, sondern unterliegt der Annahme, geografische Gebiete seien gegebene Entitäten von langer Dauer. Im Gegensatz dazu versteht das Projekt Territorien und Territorialität als Konstruktion, als etwas von außen wie von innen Gemachtes.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen