Hieroglyphik und Natursprache in der deutschen und westeuropäischen Aufklärung
Final Report Abstract
Im 18. Jahrhundert wird die Bedeutung der Hieroglyphe stark ausgeweitet, indem sie – über die damals (vor Champollion) noch als Bilderschrift aufgefasste ägyptische Zeichensprache hinaus – auf alle ältesten bildhaften religiösen und profanen Überlieferungen sowie auf die Künste bezogen wird. Zugleich wird die Bezeichnung/der Begriff/die Semantik der Hieroglyphe auf die Praxis einer angenommenen archaischen Körper- und Handlungssprache angewandt und damit auch auf die Felder religiöser Rituale und Zeremonien erweitert. Die Hieroglyphe erhält dadurch eine Schlüsselstellung nicht nur in der Sprach- und Schrifttheorie sowie der Kulturanthropologie, sondern auch in der Theologie und Theosophie, ferner in der Physiognomik und – besonders zukunftsträchtig – in der Kunsttheorie. Insgesamt erweist sich der Begriff als Brücke, mit dessen Hilfe scheinbar disjunktive Phänomene wie Bild, Gestik und Schrift, Mythologie und Logos sowie Metapher, Gleichnis, Metonymie und Allegorie als miteinander zusammenhängend oder zumindest kombinierbar angesprochen werden können. Die tradierte Verbindung der Hieroglyphen mit hermetischen Denktraditionen aus Renaissance und Früher Neuzeit wurde zwar problematisch, doch blieben andererseits alle Theorien, ob aufklärungsnah oder esoterikaffin, dem Grundverständnis der Hieroglyphe als einer rätselhaften Chiffre verpflichtet (sie ‚hat‘ bzw. ‚ist‘ ein Geheimnis). Zwar lassen sich in der Begriffsverwendung sowohl spekulative als auch sachbezogene, auf die Schriftzeichen bezogene Untersuchungen unterscheiden, doch sind diese nicht deckungsgleich mit dem schematisierten Gegensatzpaar esoterisch vs. aufklärerisch. Auch die sachbezogenen Studien wichen aufgrund eines mangelnden Wissensstandes vielfach auf Spekulationen aus. Es lassen sich zwar eher aufklärerische und eher esoterische Bemühungen ausmachen, doch ist zumeist mehr ein Ineinander als eine Trennschärfe festzustellen. Die Autoren kommen teilweise zu parallelen oder vergleichbaren Antworten, kommunizieren aber nur partiell miteinander, so dass keine Kontinuität der Auseinandersetzung entstand, die zu einer Verbindlichkeit des Hieroglyphenbegriffes hätte führen können. Ebenso verhält es sich mit den verwandten, oftmals in Zusammenhang mit der Hieroglyphe diskutierten Konzepten wie Natursprache, Naturschrift, Naturhieroglyphe oder Ursprache. Für alle Autoren bis auf Diderot zeugen die Hieroglyphen von den dunklen Anfängen menschlicher Kultur, die mythologisch bzw. in den ältesten religiösen Überlieferungen als Ära beschrieben werden, in der die Menschen noch mit den Göttern verkehrten. Teils wird diese Grenze von den Autoren kulturanthropologisch interpretiert: die Hieroglyphen sind in diesem Sinne heilige Zeichen einer theokratischen Kultur, die sich durch Religion und Göttervorstellungen ihr Weltbild schafft. Teils werden sie – in Aufnahme der hermetischen und neuplatonistischen Traditionen – zu Botschaften des Göttlichen sakralisiert. Es gibt darüber hinaus auch die Vorstellung, dass Gott sich den frühen Menschen in jener archaischen Hieroglyphensprache offenbart habe, in der sie damals selbst miteinander kommunizierten; die ältesten Zeugnisse wären demgemäß gleichermaßen göttlich wie menschlich. Diderot nimmt zwar mit seinem Desinteresse an der historischen Verankerung der Hieroglyphe eine Sonderstellung ein, doch hat auch er mit der Kunsthieroglyphe Anteil an der hieroglyphischen Tradition des Numinosen und Religiösen.
Publications
- Von der Hieroglyphe zum Tableau. Diderot als Kunstkritiker und Kunsttheoretiker. In: Transgressions – Überschreitungen. Mélanges en l’honneur de Hermann Hofer. Hg. v. Thilo Karger u. Wanda Klee u. Christa Riehn. Marburg 2011, S. 349–376
Annette Graczyk
- Esoterik und die „Dialektik der Aufklärung“. Zum Stellenwert und zur Strahlkraft esoterischen Wissens bei Theodor W. Adorno und in der kritischen Theorie. In: Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth u. Markus Meumann. Berlin-Boston 2013 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 50), S. 291–308
Werner Nell
(See online at https://doi.org/10.1515/9783110297836.291) - Lavaters Neubegründung der Physiognomik zwischen Aufklärung, christlicher Religion und Esoterik. In: Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth u. Markus Meumann. Berlin-Boston 2013 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 50), S. 322–339
Annette Graczyk
(See online at https://doi.org/10.1515/9783110297836.322)