Zur Konstituierung von Gegenständen in politisch-historischen Unterrichtssituationen. Eine vergleichende Rekonstruktion am Beispiel von Frankreich und Deutschland
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit dem Projekt bzw. der Frage nach der Gegenstandskonstituierung in politisch-historischen Unterrichtssituationen in Frankreich und Deutschland konnte einem Forschungsdesiderat im Bereich der qualitativ vergleichenden Unterrichtsforschung entgegengetreten werden. Analysiert wurde auf der Mikroebene von Sequenzen wie und als was fachliche Gegenstände (wie z.B. die Gründung Roms, Wählengehen) als Bedeutungsträger interaktional durch die Schüler:innen und die Lehrpersonen konstituiert werden. Dabei zeichneten sich innerhalb der als Fälle bezeichneten Analysen Muster ab, die vor allem auch im Vergleich der Länderbeispiele zueinander variierten. Diese Varianzen ließen sich auf den ersten Blick mit der Makroebene curricularer Vorgaben in Verbindung bringen, die aber nicht restlos klärten, was den je spezifischen Gegenstand in den wechselseitigen Beiträgen ausmacht. Es zeigte sich in den untersuchten Unterrichtsituationen, dass Schüler:innen und Lehrkräfte situativ vor allem mit unterschiedlichen Repräsentationen und Kontextualisierungen einen fachlichen Gegenstand in spezifischer Art und Weise konstituieren. Die Beobachtungen förderten zudem idealtypisch Zugänge/Modi zu Tage, in denen dies geschieht. Als Datengrundlage dienten 44 video- und audiografierte Unterrichtsstunden in den Fächern Geschichte, Histoire-Géographie, Enseignement moral et civique aus sechs Schulklassen. Beteiligt war je eine Lehrperson an zwei verschiedenen Schulen der Sek. I im Rhein-Main-Gebiet und zwei Schulen im Großraum Paris im Schuljahr 2018/19 und nicht wie ursprünglich geplant an je einer Schule. Dieses Vorgehen war notwendig, da sich die Koordination vergleichbarer Unterrichtsthemen und Einheiten als herausfordernd darstellte, zudem wurden zusätzliche Unterrichtstunden zur Aufzeichnung angeboten. Der erweiterte Datenkorpus erwies sich als entscheidende Weichenstellung für die Fallauswahl und das Gelingen des Projektes. Methodologisch und methodisch orientiert sich das Vorgehen an den Standards international vergleichender qualitativer Forschung. Das kleinschrittige interpretative Vorgehen ermöglichte die Standortgebundenheit auch hinsichtlich Übersetzungen intensiv zu reflektieren. Die Transkripte – in ihrer Originalsprache belassen – wurden mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack) nach dichten forschungsrelevanten Passagen abgesucht, die dann mit der Objektiven Hermeneutik (Oevermann, Wernet) in einer regelmäßig stattfindenden Interpretationswerkstatt mit Muttersprachler:innen sequentiell interpretiert wurden. Der Einsatz rekonstruktiver Methoden erwies sich auch in der Zusammenarbeit mit den französischsprachigen Kooperationspartner:innen als handhabbar und zielführend. Als zentrales Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich in den vorliegenden fallvergleichenden Rekonstruktionen kulturelle/nationale Muster zeigen, die je nach Gegenstand für die Länderbeispiele unterschiedlich dominant ausfallen. Für die Beispiele aus dem Unterricht aus dem Rhein-Main-Gebiet zeigte sich tendenziell eine Gegenstandskonstituierung entlang lebens- und erfahrungsweltlicher Repräsentationen, in den Beispielen aus dem Großraum Paris tendenziell eine Konstituierung über raum-zeitliche Sphären, republikanische Werte und Komparation. Es ließen sich, wenn auch weniger ausgeprägt, Gemeinsamkeiten zwischen Fallbeispielen feststellen, die einer häufig behaupteten Eindeutigkeit (Essentialisierung) zuwiderlaufen. Alles in allem tragen die Rekonstruktionen zu einer differenzierten Sicht auf die Konstituierung von Gegenständen im (Fach)Unterricht in beiden Ländern bei. Die Fallbeispiele bieten Möglichkeiten zur Nachnutzung im Bereich der vergleichenden erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Unterrichtsforschung sowie in einer forschungsorientierten Lehre.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2018): Zur Konstituierung moralischer Vorstellungen vor 1968 – fachliche und methodische Perspektiven transnationaler deutsch-französischer Unterrichtsrekonstruktionen, In: Tertium Comparationis, 24 (2), S. 206-227
Schelle, Carla/Straub, Christophe
(Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:24689) - (2020): La construction d’objets dans des situations d’apprentissage – une comparaison franco-allemande au sujet de la fondation de Rome, In: Recherches en didactiques, 3/31, 47-70
Schelle, Carla/Straub, Christophe
(Siehe online unter https://doi.org/10.3917/rdid1.031.0047) - (2020): “c’est votre droit et votre devoir” – transformative Prozesse in deutsch-französischen Unterrichtsrekonstruktionen zum Gegenstand Wahlen, In: Schelle, Carla et al. (Hrsg.): Innovationen und Transformationen in Schule, Unterricht und Lehrerbildung – Empirische Studien und Vergleiche zu Senegal, Togo, Burkina Faso, Frankreich und Deutschland. Münster/New York: Waxmann-Verlag, S. 209-222
Straub, Christophe/Schelle, Carla
- (2020): „c’est votre droit et votre devoir“ – des processus transformatifs autour de l’objet de cours „élections“ dans des reconstructions francoallemandes, In: Montandon, F. et al. (Hrsg.): Innovation et transformation au sein des enseignements et de la formation. Sénégal, Togo, Burkina Faso, France et Allemagne. Saint- Denis: Connaissances et Savoirs, 165-181
Straub, Christophe/Schelle, Carla
- (2021): Zur Konstituierung des Citoyen in Frankreich – eine Rekonstruktion aus dem politisch-historischen Fachunterricht, In: zdg – Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, (2), 193-203
Straub, Christophe