Computationale Modellierung von Blicksteuerung beim Lesen chinesischer Schrift
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Chinesische Schrift eignet sich besonders gut für die Untersuchung kontroverser theoretischer Vorschläge zur verteilten Verarbeitung während des Lesens. Die Gründe hierfür sind zum einen, dass chinesische Schriftzeichen sehr viel direkter die Bedeutung eines Wortes vermitteln als alphabetische Schriften, und zum anderen, dass die Mehrheit der chinesischen Wörter sich nur aus einem oder zwei Schriftzeichen zusammen setzen. Anders als in den meisten alphabetischen Schriften wird das Chinesische allerdings ohne Leerzeichen zwischen den Wörtern geschrieben, was die Bestimmung der Wortgrenzen, die für eine effiziente Blicksteuerung beim Lesen erforderlich sind, erschwert. Das Projekt Computationale Modellierung der Blicksteuerung beim Lesen chinesischer Schrift wurde in Zusammenarbeit mit Frau Prof. Hua Shu von der Beijing Normal University bearbeitet. In einer ersten Phase stand die Erhebung von Blickbewegungsdaten beim Lesen von Sätzen im Vordergrund, bei denen für alle Wörter Normen für die Frequenz, die visuelle Komplexität und die Vorhersagbarkeit aus dem früheren Satzkontext vorliegen. Es ist bekannt, dass diese Eigenschaften eines fixierten Wortes einen Einfluss auf die Fixationsdauer haben. Ein neuer Befund dieses Projekts ist, dass die Fixationsdauern auch durch die Eigenschaften des nächsten Wortes beeinflusst werden, womit kontrovers diskutierte Befunde aus dem Deutschen gestützt werden. Mit weiteren Experimenten konnte darüber hinaus zum ersten Mal für ein Schriftsystem belegt werden, dass diese Vorverarbeitung sich auch auf die semantische Ebene erstrecken kann - ein Befund, der eine zentrale Annahme einer der aktuellen Theorien des Lesens in Frage stellt. Das Projekt hat auch grundlegende Befunde zur Blicksteuerung bei der Abwesenheit von Leerzeichen geliefert. Die Analyse der Verteilungen von Landepositionen in den Wörtern legt nahe, dass zunächst der Beginn des nächsten Wortes als Sakkadenziel angenommen wird, das sich aber bei erfolgreicher Vorverarbeitung in die Mitte dieses Wortes verschiebt. Schließlich wurden die Projektdaten auch zur Erweiterung unseres für westliche Sprachen bereits vollständig implementierten computationalen Modells zur Blicksteuerung beim Lesen (SWIFT) verwendet. Die besondere Anforderung an SWIFT-C(hinese) bestand darin, aus schriftzeichen- und wortabhängigen Übergangswahrscheinlichkeiten und bei gleichzeitiger Berücksichtigung der lexikalischen Aktivierungsmuster Wortgrenzen zu berechnen und für die Planung der Augenbewegung zu verwenden. SWIFT-C simuliert u.a. diverse Fixationsdauern und -wahrscheinlichkeiten in Abhängigkeit von Wortfrequenz, -vorhersagbarkeit und -komplexität sowie Verteilungen von Fixationsdauern und Landepositionen. Das Modell setzt damit neue Standards, an denen sich künftige Modelle messen lassen müssen. Insgesamt belegt dieses Projekt den Wert kulturvergleichend angelegter experimenteller Forschung. Der Vergleich von schriftzeichenbasierten und alphabetischen Schreibsystemen bietet viele Möglichkeiten, die Effizienz und Anpassungsfähigkeit der Informationsverarbeitung des menschlichen Geistes besser zu verstehen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2009). Chinese readers extract semantic information from parafoveal words during reading. Psychonomic Bulletin & Review, 16, 561-566
Yan, M., Richter, E. M., Shu, H., & Kliegl, R.
- (2010). A linear mixed model analysis of masked repetition priming. Visual Cognition, 8, 655-681
Kliegl, R., Masson, M.E.J., & Richter, E.M.
- (2010). Flexible saccade-target selection in Chinese reading. Quarterly Journal of Experimental Psychology, 63, 705- 725
Yan, M., Kliegl, R., Richter, E.M., Nuthmann, A., & Shu, H.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1080/17470210903114858) - (2010). Parafoveal load of word n+1 modulates preprocessing of word n+2. Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 36, 1669-1676
Yan, M., Kliegl, R., Shu, H., Pan, J., & Zhou, X.
- (2011). Preboundary duration modulates semantic preview benefit for word n+1 and n+2 in Chinese reading. Reading and Writing: An Interdisciplinary Journal. Published online: 30 October 2010
Yan, M., Risse, S., Zhou, X., & Kliegl, R.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11145-010-9274-7)