Die kommunikative Konstruktion des "pathologischen" Glücksspiels. Eine wissenssoziologische Analyse des parlamentarischen Diskurses zur "Glücksspielsucht" in der Bundesrepublik Deutschland
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Geschichte des „pathologischen Glücksspiels“ in Deutschland kann als Geschichte der Instrumentalisierung dieses Problemmusters gelesen werden. Mit dem Krankheitsbild „Spielsucht“ wurde nicht nur ein (neues) soziales Problem bezeichnet, sondern diese soziale Konstruktion wurde dazu herangezogen, um zur Lösung anderer sozialer Problemen beizutragen bzw. entsprechende Lösungsansätze zu legitimieren. Neben städtebaulichen und fiskalischen Problemen betraf dies auch das Problem der Kontrolle von potentiell allen Spielenden, wie sie durch elektronische Spielerkarten, Trackingsoftware und biometrischen Zugangskontrollen möglich geworden ist. Darüber hinaus lässt sich im Zuge der Auseinandersetzungen um die Regulierung des kommerziellen Glücksspiels eine bestimmte Entwicklungsrichtung ausmachen. Das Glücksspiel wurde von einer „dichten Normativität“ befreit und tendenziell einer „dünnen Normativität“ unterworfen. Nicht mehr moralische Bewertungen, Verurteilungen und Verbote beherrschten das soziale Feld des Glücksspiels, sondern den Spielenden wurde nunmehr das Recht eingeräumt, über den moralischen Gehalt ihrer Aktivitäten selbst zu entscheiden. Im Zuge dieser Verschiebung verloren Formen der „dichten Normativität“, wie sie von den Opponenten des Glücksspiels unter Rückgriff auf christliche Moralvorstellungen diskursiv repräsentiert wurden, seit den 1950er Jahren stetig an Überzeugungskraft, ohne freilich gänzlich zu verschwinden. Zwar blieb das Glücksspiel Gegenstand von politischen Kontroversen, doch hatte sich das Gravitationszentrum dieser Auseinandersetzungen deutlich verschoben: Nicht mehr Fragen der Sünde und den christlichen Grundsätzen, die im Zentrum des christlich-moralischen Diskurses stehen, trieben die Zeitgenossen um. Im Rahmen des gefährdungssensiblen Normalisierungsdiskurses, der die Oberhand gewonnen hatte, dominierten Fragen nach der zweckmäßigsten Organisation eines seriösen (legalen) Spielbetriebs, der dem „mündigen Bürger“ das Ausleben seines „Spieltriebs“ erlauben und dabei simultan ausreichende Mittel für gemeinnützige Zwecke abwerfen sollte. Zugleich mit der gesellschaftlichen Akzeptanz und Normalisierung des Glücksspiels kam es auch zu einer Normalisierung der Glücksspielsucht. Zu dieser Form der Normalisierung gehörte es, dass die Notwendigkeit von speziellen Maßnahmen zur Sicherung bzw. Wiederherstellung der seelischen und mentalen Autonomie der ‚Glücksspielsüchtigen“ institutionalisiert wurden (etwa in Form von Präventions- und Therapieangeboten). Die von den Glücksspielgegnern als bevorzugtes Gegenargument in den Vordergrund gerückten (potentiell hohen) finanziellen Verlustmöglichkeiten der Spielenden und die damit einhergehenden Probleme auf der individuellen und familiären Ebene wurden zur Bearbeitung an dafür spezialisierte Institutionen delegiert. Allerdings blieb das „spielsüchtige Individuum“ aufgefordert, sich nicht nur zu seiner Erkrankung zu bekennen, sondern sich auch an der Einhegung und Überwindung der Krankheit aktiv zu beteiligen. Gegenwärtig ist noch weitgehend offen, in welche Richtung sich Staat und private Anbieter auf dem lukrativen Glücksspielmarkt weiter bewegen werden und welche Implikationen sich daraus für die soziale Kontrolle der Spielenden und die Ausgestaltung ihres Glücksspielverhaltens ergeben werden. Nicht zuletzt aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen Online- und Offline-Angeboten und durch die Propagierung des schillernden Konzepts des verantwortlichen Spielens zeichnet sich dieses soziale Feld gegenwärtig durch eine erhebliche Dynamik aus. Weitere Forschung, die dann auch über die Analyse von Diskursen hinausgehen sollte, erscheint hier vonnöten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2018): Die kleinen Freuden am Automaten. In: Christoph Lövenich/Johannes Richardt (Hg.): Genießen verboten. Über die Regulierung der kleinen Freuden des Lebens. Frankfurt: Novo Argumente Verlag, S. 131–141
Reichertz, Jo
- (2019): The social construction of “gambling addiction” as a means of solving other social problems. The Case of Germany. “17th International Conference on Gambling & Risk Taking“, Las Vegas, 27./30. Mai 2019
Möll, Gerd/Jo Reichertz
- (2019): Wie ein Problem zu einer Lösung (gemacht) wird. Die Konstruktion von Problemgruppen und ihre intendierten und transintentionalen Folgen am Beispiel der Selbsthilfevereinigung Gamblers Anonymous. In: Negnal, Dörte (Hrsg.): Die Problematisierung sozialer Gruppen in Staat und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. S. 255–273
Möll, Gerd
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-22442-4_13)