Morphologie als wissenschaftliches Paradigma Zur Aktualität eines naturphilosophischen Begriffs
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der Ausgangspunkt der Überlegungen betraf das geteilte Interesse der Netzwerk-Mitglieder am Werk von Ernst Cassirer. Dabei wurden zwei zusammenhängenden Thesen verfolgt, nämlich 1) dass Ernst Cassirers Philosophie durch die besondere Art der Anknüpfung an die philosophische und wissenschaftliche Tradition, Anregungen für einen Wissenschaftsbegriff bietet, der für die Forschungen verschiedener Disziplinen immer noch relevant ist; und 2) dass dem Bezug zur Metamorphosenlehre Goethes sowie der systematischen Zentralität der Formbegriffe in Cassirers Werk eine besondere Rolle zukommen. Zunächst hat das Netzwerk in eigenen Vorträgen einzelne relationslogische Merkmale von Cassirers Wissenschaftskonzeption mit Blick auf seine Rezeption der Morphologie herausgearbeitet und eine differenztheoretische Lesart fruchtbar gemacht. Dadurch wurde im Austausch mit Kollegen und Gastbeiträgern dazu angeregt, den Bezug zu kulturwissenschaftlichen, lebenswissenschaftlichen und technologischen Feldern zu untersuchen. Die Bedeutung von Cassirers Konzeption wurde vor allem dadurch deutlich, dass sie sich immer wieder als anschlussfähig erwies. So stellte sich die Frage, worin dies begründet ist und ob die Herausarbeitung generellerer Merkmale der Konzeption Cassirers eine Antwort bieten könnte. Als Ergebnis erschien, dass bei Cassirer ein pluralistisches Wissenschaftsverständnis ausgedrückt ist, welches zur Spaltung der Wissenschaft (in positivistische und kritische, empirische und theoretische, analytische und »holistischen«) quer steht und ihre Einheit betont. Es vermeidet den Relativismus bei gleichzeitiger Anerkennung die Autonomie der verschiedenen Richtungen, Ziele und Methoden der Wissenschaften im weitesten Sinne. So hat sich die weitergehende Ausgangsthese des Netzwerkes, dass Morphologie so etwas wie ein wissenschaftliches Paradigma darstellt, als sehr fruchtbare Forschungsfrage erwiesen, die nicht nur positiv beantwortet, sondern auch differenziert werden konnte. Die verschiedenen Gebrauchsweisen des Terminus und die Implikationen der verschiedenen Methoden wurden durch den vielfältigen Austausch der Gruppe mit eingeladenen Gästen sehr gut herausgearbeitet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Forschungsansätze, die ein reflektiertes Unterlaufen der Natur-Kultur-Trennung ermöglichen, in der heutigen Situation (Stichwort Anthropozän) ein vielversprechendes Forschungsfeld darstellen. Außerdem wurde die Notwendigkeit übergreifender Begriffe zur Förderung des Austauschs von Philosophie und Wissenschaft sowie der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen untereinander deutlich. Es bleibt ein Desiderat wissenschaftshistorischer und -theoretischer Forschung, das oftmals implizit geteilte lokale und historische Verständnis der Ziele und allgemeinen Rolle von Wissenschaft herauszuarbeiten, um einen Maßstab für heutige Entwicklungen zu gewinnen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- »Schwerpunkt Morphologie«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2019-1
Ralf Müller