Die leiblich-affektive Dimension kollektiver Intentionalität
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Wie können mehrere Individuen ein gemeinsames Gefühl (shared feeling) haben? Die meisten gegenwärtigen Ansätze zur Klärung dieser Frage machen anspruchsvolle Voraussetzungen, nach denen die beteiligten Individuen schon eine Menge gemeinsam haben müssen, damit sie zu einem gemeinsamen Gefühl kommen. So müssen sie im Rahmen dieser Ansätze beispielsweise schon eine gemeinsame Handlung verfolgen oder sich gemeinsam um eine Sache sorgen oder wenigstens irgendwie schon eine Gruppe mit einer nicht allzu kurzen gemeinsamen Geschichte bilden. Demgegenüber besteht ein zentrales Ergebnis des Projekts in der Herausarbeitung einer sehr elementaren Form des gemeinsamen Fühlens (elementary affective sharing), die ohne die genannten Voraussetzungen auskommt. Elementares gemeinsames Fühlen kann als Antwort auf bestimmte Situationen ganz spontan geschehen. Es kann sogar bewirken, dass sich Individuen, die zuvor weder eine Gruppe waren noch die Absicht hatten, eine zu bilden, nunmehr im Sinne einer Gemeinschaft ansehen – wenn auch oft nur vorübergehend. Ein Beispiel sind die spontane Fremdscham als Antwort auf jemandes Fehlverhalten im Restaurant, worin sich die ansonsten fremden Gäste zeitweilig als ein „Wir“ verstehen. In Fällen wie diesem sind gemeinsames Handeln, eine gemeinsame Sorge oder eine gemeinsame Geschichte nicht etwa Voraussetzungen, sondern Folgen des gemeinsamen Fühlens. Damit kommt diese Form als etwas sehr grundlegendes für Gemeinschaftsbildung überhaupt in Betracht. Die bei der genaueren Untersuchung jener elementaren Form des gemeinsamen Fühlens herausgestellten Mechanismen gehen zu einem großen Teil auch in komplexere, weniger an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebundene Formen von Gemeinschaft ein. Beispiele hierfür sind gesellschaftliche Stimmungen wie etwa ein weitgehend unbestimmtes Bedrohungsgefühl, die den von ihnen Ergriffenen ganz bestimmte Möglichkeiten zu rationalem Verhalten eröffnen und andere verbauen, und von dem einige beanspruchen, es auch im Namen anderer auszusprechen. Überdies lässt sich auch die Teilhabe an einem gemeinsamen Sinnzusammenhang von Werten und Normen, der mit einem gruppenspezifischen Rechtsgefühl zusammenhängt, genauer verstehen, wenn einige Mechanismen des elementaren gemeinsamen Fühlens herangezogen werden. Die Integration des Einzelnen in derartige Sinnzusammenhänge hängt nicht zuletzt auch von einem entsprechenden Zugehörigkeitsgefühl ab.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Der Absolutismus des Anderen. Eine Skizze, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte 26: 3–34
Nörenberg, Henning
- The Numinous, the Ethical, and the Body. Rudolf Otto’s “The Idea of the Holy” Revisited. Open Theology, Bd. 3, Heft 1, pp. 546–564.
Nörenberg, Henning
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/opth-2017-0042) - Elementary Affective Sharing. The Case of Collective Embarrassment. Phänomenologische Forschungen, Jg. 2018-1, pp. 129-150.
Nörenberg, Henning
- Solidarity and Responsibility. Open Societies and the Ethics of Absolute Alterity, in: Altmann, Jörg et al. (Hg.), Solidarity in Open Societies. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 57-78. ISBN 978-3-658-23641-0
Nörenberg, Henning
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-23641-0_4)