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Das Anna und ihr Hund. Weibliche Rufnamen im Neutrum. Soziopragmatische vs. semantische Genuszuweisung in Dialekten des Deutschen und Luxemburgischen

Fachliche Zuordnung Einzelsprachwissenschaften, Historische Linguistik
Förderung Förderung von 2015 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 261383717
 
Erstellungsjahr 2020

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Beim appellativischen (nicht-diminuierten) Bezeichnungen, Eigennamen, aber auch Pronomina für Frauen und Männer sind Genus und Geschlecht üblicherweise engstens verzahnt (die Mutter/der Vater; die Ingrid/der Herbert, er/sie). Umso markierter sind sog. Genus/Sexus-Diskordanzen, die bei Appellativen mit deutlich pejorisierenden bzw. sozialdisziplinierenden Effekten einhergehen (die Tunte, die Memme, das Weib, das Merkel); dabei kommt das dritte, neutrale Genus auffälligerweise nur Frauen und Mädchen zu. Anders in Dialekten des Deutschen und Luxemburgischen, wo neutrale Referenzen auf Frauen, insbesondere deren Namen (s/et Tanja), an der Tagesordnung stehen, oft unmarkiert sind und dabei meist vertraut-familiär wirken. Das dazu in Opposition stehende Femininum schafft Distanz und gilt besonders respektierten (Müttern) oder fremden Frauen. Diese prinzipiell wählbare (neue) Genusart lag bislang linguistisch und dialektologisch brach und wurde in diesem trinationalen Projekt so umfassend und tiefgehend wie möglich erst- und vermutlich auch letztmals untersucht, denn diese Neutrumareale schwinden im Zuge des allgemeinen Dialektabbaus rapide. Das Projekt hat vielerorts in der ältesten Generation die letzten Reste erhoben. Mit fünf unterschiedlichen Methoden haben die beiden Mitarbeiterinnen (für den deutschen Projektteil) diese hochkomplexen Genuszuweisungen und -verwendungen in 21 Orten exploriert bzw. (durch Online-Umfragen) auch flächendeckend erhoben und dabei komplexe soziopragmatische Zuweisungs- und Gebrauchsregeln beschrieben, die historisch aus ständisch-sozialdeiktischen Systemen reanalysiert (und horizontalisiert) wurden: Früher wurden ledige Bauerntöchter und Dienstmädchen neutral klassifiziert, d.h., mit dem Neutrum wurde ‚nach unten‘ (vertikal) referiert - und umgekehrt mit dem Femininum ‚nach oben‘ mit Bezug auf die (verheiratete) Ehefrau, Mutter und Großmutter. Dagegen werden heute mit dem Neutrum persönliche, vertraute, oft familiäre Beziehungen zwischen der SprecherIn, der AdressatIn und beider Relation zur Referentin markiert. Doch auch das Alter der Referentin, die verwandtschaftliche Beziehung, ihre Dialektkompetenz, Ortsansässigkeit etc. werden als weitere, auf das ältere System verweisende Faktoren verrechnet, nicht zuletzt Kontext und Situation, in der diese Referenzen vorgenommen werden. Damit können Frauen grundsätzlich zwei Genera zugewiesen werden. Die Überblendung von altem und neuem System stellt sich in jedem Ort anders dar, was die Komplexität erhöht. Hinzu kommt, dass NP-intern und -extern unterschiedliche Genera zum Einsatz kommen können, was zusätzliche pragmatische Effekte freisetzt, vgl. das Anna – sie und die Anna – es. Dabei konnten unterschiedliche Großareale identifiziert werden: Neutrumgrammatikalisierungen im Westen (Luxemburgisch, Moselfränkisch, auch Ripuarisch), Pragmatikalisierungen eher im Rheinfränkischen und Alemannischen bei genereller Neutrum-Abbautendenz, die sich auch intergenerationell bestätigte. Diese neue (soziopragmatische) Genusart bildet einen Fall von Degrammatikalisierung. Sie war der internationalen Genus- und Grammatikalisierungsforschung bislang nicht bekannt. Verschiedene Medien (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen) haben von dem Projekt berichtet, befördert durch den landesweit distribuierten Online-Fragebogen, der zu insgesamt (D, CH, LUX) fast 4.900 Rückläufen aus ca. 1.800 Orten geführt hat. Überraschungen bestehen in der Interaktion dieser Genera mit weiteren soziopragmatisch aufgeladenen Phänomenen wie der Namensyntax, Namenmovierung, Namengenitivierung, Frau X, onymische (Nicht-)Artikelsetzung und familiärem uns + Name. Auch kamen Haustiere und Kinder mit ins Netz, die ebenfalls neutrumaffin sind, oft aber auch gar nicht vergeschlechtlicht werden. Bei der Klassifikation von Kindern ergab sich mehrfach, dass sie dialektgrammatisch in größere Nähe zu Tieren als zu Erwachsenen gestellt werden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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