Neutestamentliche Exegeten der Katholischen Tübinger Schule im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung von Paul von Schanz
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Exegeten der Katholischen Tübinger Schule befanden sich in einem doppeltem Bezugssystem: Die Anwendung der historisch-kritischen Methode innerhalb der katholischen Theologie musste somit die Beachtung des kirchlichen Sinnes der Bibel mit einschließen, so dass eine wissenschaftliche Auslegung der Bibel nur innerhalb des in der katholischen Kirche geltenden hermeneutischen Rahmens, d. h. unter Berücksichtigung der Trias von Schrift, Tradition und Lehramt, erfolgen konnte. In diesem doppelten Bezugssystem war den katholischen Exegeten die produktive Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs unter weitgehendem Verzicht auf Polemik und Apologetik möglich, auch wenn ihnen bisweilen von nichtkatholischen Fachkollegen mit Misstrauen begegnet wurde. Dass beide Bezugssysteme in der Arbeit der Exegeten sich auch gegenseitig beeinflussen konnten, wurde in Fallbeispielen gezeigt. Die verpflichtende Kirchlichkeit der Exegese führte bei den Tübinger Neutestamentlern nicht in eine totale Abhängigkeit des Exegeten von Vorgaben des Lehramts. Gerade am Werk von Paul von Schanz ließ sich zeigen, dass dieser Ansatz dem Programm einer „Katholischen Wissenschaft“ entsprach, welches die Vereinbarkeit von Katholizismus und Wissenschaft zum Ziel hatte (siehe exemplarisch die Diskussion um den consensus patrum). Indem sich die katholischen Exegeten Tübingens innerhalb dieses doppelten Bezugssystems verorteten und die Geltung beider Systeme für ihr Selbstverständnis als Exegeten anerkannten, gelang es ihnen, beiden Systemen zu entsprechen. Da bis in die neueste Literatur hinein der Fokus auf dem Konflikt zwischen historisch-kritischer und kirchlicher Bibelauslegung liegt, konnte anhand der katholischen Exegeten im Forschungsprojekt gezeigt werden, dass in jener Zeit auch eine Vereinbarkeit beider Auslegungen angestrebt wurde und erreichbar war. Das Projekt hat exemplarisch gezeigt, dass die Geschichte der katholischen Bibelwissenschaft des 19. Jh.s wesentlich heterogener und differenzierter war, als gemeinhin angenommen wird. Die Modernismuskrise während der Wende zum 20. Jahrhundert und die autoritären lehramtlichen Entscheidungen hinsichtlich der Bibelwissenschaft, wie sie sich etwa am Schicksal des französischen Exegeten Alfred Loisy (1857-1940) zeigen, stellen zweifelsohne eine Zäsur dar, der der wissenschaftliche Ertrag der Exegeten des 19. Jahrhunderts zum Opfer gefallen ist und von der bis heute die Wahrnehmung der Geschichte der katholischen Exegese jener Zeit bestimmt wird. Die Beschäftigung mit den einzelnen Tübinger Neutestamentlern während der ersten Förderphase hat gezeigt, dass sie an einer Vielzahl von Diskursen der Bibelwissenschaft partizipierten, die innerhalb der katholischen Exegese bis weit ins 20. Jahrhundert hinein virulent blieben. Exemplarisch sei hier auf die Frage der Bibelübersetzung und der Bibelausgaben, der Authentizität und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, der Markus-Priorität etc. verwiesen. Die Bearbeitung spezifischer theologischer Diskurse, an denen die katholischen Tübinger beteiligt waren, ihre Sicht aus Perspektive ihrer protestantischen Kollegen sowie Aspekte ihrer Nachgeschichte standen in der zweiten Förderphase im Fokus. Die Heterogenität der Ansätze sowie der Ergebnisse lässt sich schwerlich auf einen bündigen Nenner bringen. Es lässt sich jedoch an verschiedenen Themenkomplexen ersehen, dass die Tübinger Neutestamentler bemüht waren, die Herausforderungen ihrer Zeit anzunehmen (wie es Walter Kasper von ihnen behauptet) und den theologisch heißen Eisen nicht aus dem Weg zu gehen. An der Auseinandersetzung mit dem politisch und kirchlich aufgeladenen Motivkomplex der Prophetie etwa lässt sich ersehen, wie weit man – v.a. in der ersten Hälfte des 19. Jh.s – z.T. inhaltlich ging, während man einschlägige semantische Bezüge vermied, um nicht in Heterodoxieverdacht zu geraten. Im Vergleich mit Ignaz Döllinger zeigt sich, welche existenziellen Folgen bis hin zur Exkommunikation explizitere Einlassungen zum Thema nach sich zogen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Röm 5,12-21 innerhalb der neutestamentlichen Exegese der Katholischen Tübinger Schule – Konturen einer Auslegungsgeschichte, in: Anja Middelbeck-Varwick (Hg.), "So lauert die Sünde vor der Tür" (Gen 4,17) Nachdenken über das Phänomen der Fehlbarkeit (Apeliotes 9) Frankfurt/M. 2011, 119-163
Markus Thurau
- Kontextuelle Theologie im 19. Jahrhundert? Ein Antwortversuch am Beispiel des katholischen Tübinger Theologen Paul von Schanz (1841-1905). In: Andreas Hölscher et al. (Hg.), Kirche in Welt. Christentum im Zeichen kultureller Vielfalt (Apeliotes 12), Frankfurt/M. 2013, 243-274
Markus Thurau
(Siehe online unter https://doi.org/10.3726/978-3-653-03304-5) - Julius Wellhausen im Rottenburger Priesterseminar. Zum theologischen Geschick des Orientalisten Josef Marquart (1864-1930), in: Theologische Quartalschrift 194 (2014), 205-225
Markus Thurau
- Baur, Ferdinand Christian. In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 8: Nachträge und Register, Berlin/Boston 2015, 42-44
Rainer Kampling/Markus Thurau
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110379457-004) - “Leben-Jesu-Forschung [Hinzugefügt 2020]”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hrsg. von Friedrich Jaeger
Matthias Adrian
(Siehe online unter https://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_408221)