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Kulturgeschichte des Diebstahls: Ein Gründungsmythos
Antragstellerin
Professorin Dr. Dorothee Kimmich
Fachliche Zuordnung
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Förderung
Förderung von 2013 bis 2018
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 237482448
Der listige, schlaue, mutige und kluge Dieb ist eine prominente Figur: Die Diebstahlserzählung gehört zu den zentralen griechischen und biblischen Gründungsmythen, die in der Kulturgeschichte bis in die Gegenwart vielfach variiert werden. Prometheus stiehlt das Feuer von den Göttern, Hermes versteckt geschickt die Rinder, die er Apollon gestohlen hat. Adam und Eva nehmen sich den ihnen verbotenen Apfel. Der Diebstahl gehört aber nicht nur zum Komplex der Gründungsverbrechen in Hinsicht auf kulturelle Identität, sondern er konturiert auch die Narration von der Selbstsetzung im Sinne der Subjektkonstitution, etwa in Augustinus' Confessiones und bei Rousseau. In der modernen Literatur ist der Diebstahl als Selbstbegründungshandlung weit verbreitet: In Poes The Purloined Letter, bei Musil, Zweig, Schnitzler und Heym treten erfolgreiche Diebe auf, ebenso bei Genet und Loher. Diebstahl ist zu unterscheiden von Raub, Entführung, kriegerisch motivierter Aneignung und Erpressung, die eine Position der Stärke und Überlegenheit markieren. Diebstahl setzt nicht auf Macht, sondern auf List. Das Spezifische des Diebstahls besteht in seiner Ambiguität: Im Diebstahl sind Teilhabe und Distanzierung zugleich enthalten. Mit dem gestohlenen Gut entsteht eine Bindung an den Bestohlenen, mit dem Akt des Stehlens grenzt sich der Dieb ab. Der Anfang ist also nicht absolut; er verweist immer auf das ihm Vorausgehende und ist daher kein echter 'Ursprung': Selbstsetzung und Kulturgründung im Zeichen des Diebstahls verweisen immer auf Tradition und Neuanfang zugleich. Diese Ambivalenz der Diebstahlsgeste, die Autonomie und Heteronomie ebenso einschließt wie Innovation und Tradition, Bindung und Befreiung, Protest und Schuld, prädestiniert sie zu einer besonders produktiven philosophischen und literarischen Figur. Themen wie Selbstsetzung, Autonomie, Umgang mit Macht und die Frage nach dem Ursprung markieren Diebstahlsnarrationen nicht selten als Texte, die in einem Grenzbereich zwischen literarischer und philosophischer Reflexion angesiedelt sind. Zur Untersuchung des Diebstahls müssen daher literarische Texte philosophisch und philosophische Texte literarisch gelesen, also eine metaphorologische Herangehensweise gewählt werden, die kollektive oder individuelle Mythologeme verstehbar macht. Dies ermöglicht gleichzeitig, die wechselseitige Beziehung zwischen Literatur und Philosophie zu untersuchen und ihre diskursiven Anknüpfungspunkte sichtbar zu machen. Die zu untersuchende These lautet, dass in der Diebstahlsnarration oder in der metaphorischen Verwendung des Diebstahls eine Handlung beschrieben wird, mit der eine Kultur, ein Diskurs oder die Subjektivität und Souveränität eines Individuums begründet werden. Das Projekt liefert einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung von nationalen, kulturellen und individuellen Gründungsmythen. Es widmet sich zum ersten Mal umfassend einem nahezu unerforschten Mythologem, das von der Antike bis in die Gegenwart hochproduktiv war.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
Kooperationspartnerinnen
Professorin Dr. Irmgard Männlein; Professorin Dr. Schamma Schahadat
Mitverantwortlich
Dr. Alexander Thumfart