Kontrafaktische Gedankenexperimente zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, ca. 1880-1930
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt hat gezeigt, dass sich die Differenz von Erklären und Verstehen anhand der zeitgenössischen Quellen um 1900 nicht bestätigen lässt. Die entsprechenden Gegensatzpaare waren keineswegs forschungsleitend, sondern wurden mittels kontrafaktischer Gedankenexperimente im Rahmen einer praxisorientierten Heuristik amalgamiert. Anders als zu Projektbeginn vermutet zeigte sich, dass weder die Dichotomie von Fakt und Fiktion noch die Bestimmung von Gedankenexperimenten als Experimenten zweiter Ordnung ohne Weiteres aufrechtzuerhalten ist. Vielmehr wurde deutlich, dass entsprechende Unterscheidungen zwar analytisch sinnvoll, nicht aber historisch real sind: Die Trennlinie zwischen Gedankenexperimenten und sogenannten „realen“ Experimenten ist historisch variabel. Gedankenexperimente wurden daher als situierte Erkenntnispraktiken in enger Relation zu den jeweiligen Vorstellungen vom Experimentieren, Beobachten, von Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kontingenz betrachtet. Dass Historiker kontrafaktischen Gedankenexperimenten vielfach ihre Funktion als Werkzeug der Erkenntnisbildung abgesprochen haben, konnte auf eine aus dem Selbstverständnis als Wirklichkeitswissenschaft heraus methodisch begründete, wie aus der Ablehnung alltäglicher kognitiver Praktiken resultierende Angst vor der imaginativen Seite ihrer Wissenschaft zurückgeführt werden, ähnlich, wie auch wissenschaftsphilosophische Studien Gedankenexperimente oft auf ihre erkenntnistheoretische Bedeutung reduziert haben. Insbesondere blenden, so unser Ergebnis, beide Zugänge die alltägliche generische Funktion kontrafaktischer Überlegungen und Gedankenexperimente aus.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2013. Das Gedankenexperiment. Gespinst oder Wissenschaft? In: Schlögl, R. (Hrsg.), Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration. Themen, Thesen, Texte 02/13, Konstanz, 30–33
Bauer, Julian
- 2014. ‚Gerichtetes Wahrnehmen‘, ‚Stimmung‘, ‚soziale Verstärkung‘. Zur historischen Semantik einiger Grundbegriffe der Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22/1,2, 87–109
Bauer, Julian
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s00048-013-0107-z) - 2014.„From Organisms to World Society: Steps towards a Conceptual History of Systems Theory, 1880–1980. Contributions to the History of Concepts 9/2
Bauer, Julian
(Siehe online unter https://doi.org/10.3167/choc.2014.090204) - 2015. Gedankenexperimente in historiographischer Funktion: Max Weber über Eduard Meyer und die Frage der Kontrafaktizität. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38/1, 77–91
Ernst, Florian
(Siehe online unter https://doi.org/10.1002/bewi.201501702) - 2015. Kann man lernen, mit Gedanken zu experimentieren? Ernst Machs Vorstellungen des Gedankenexperiments im Kontext der zeitgenössischen Pädagogik. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38/1, 87–109
Bauer, Julian
(Siehe online unter https://doi.org/10.1002/bewi.201501704) - 2015. Special Issue: Ernst Mach und das Gedankenexperiment um 1900. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38/1 (2015); darin: „Gedankenexperimente, Kontrafaktizität und das Selbstverständnis der Wissenschaften um 1900: Einleitung“, 7-14
Kleeberg, Bernhard (Gast-Hg.)
(Siehe online unter https://doi.org/10.1002/bewi.201501701)