"Familienpflege" und "aktivere Krankenbehandlung": eine multiperspektivische Betrachtung der Arbeitstherapie im Alltag psychiatrischer Anstalten der 1920er Jahre
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In der psychiatriehistorischen Forschung stehen die Jahre der Weimarer Zeit zum einen für Reformansätze, die eine Öffnung der Psychiatrie und eine Ausrichtung auf sozialstaatliche Interessen markierten, zum anderen für eine Politik der Rationalisierung, die zu einer zunehmenden Radikalisierung der Psychiatrie in Richtung eugenischer Ansätze führte. Therapie- bzw. Versorgungskonzepte wie die „aktivere Krankenbehandlung“, die „Familienpflege“ und die „offene Fürsorge“ stehen synonym für die Psychiatrie dieser Jahre. Auf Basis einer qualitativen Analyse von Verwaltungs- und Krankenakten der Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn, die 1893 als landwirtschaftliche „Irren-Colonie“ gegründet wurde und auf einem arbeitstherapeutischen Behandlungsansatz gründete, und der Landesheilanstalt Uchtspringe, in der das Modell der Familienpflege zur Anwendung kam und PatientInnen in Pflegefamilien lebten und dort arbeiteten, wurde (1) eine praxiszentrierte und alltagsgeschichtliche Perspektive auf das Konzept von Arbeit eingenommen und (2) den Zirkulationswegen dieser Konzepte sowohl im Binnenraum, als auch im Außenraum der jeweiligen Anstalt gefolgt. Auch wenn Arbeit seit dem frühen 19. Jahrhundert einen elementaren Bestandteil der Behandlung psychisch Kranker bildete, veränderte sich die Bedeutung dieses Therapiekonzepts unter den politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in der Weimarer Zeit, die auf der einen Seite von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit, auf der anderen Seite vom Ausbau sozialer Sicherungssysteme, arbeitsrechtlichen Errungenschaften und Demokratisierungsprozessen geprägt war. All diese (scheinbaren) Widersprüche, Verflechtungen und die sie bedingenden Wechselwirkungen spiegeln sich in der Praxis der Arbeitstherapie und der Familienpflege wieder. Arbeit war ein Kampfbegriff und ein politisches Instrument. Auf Arbeit basierende Therapiekonzepte trafen in ökonomisch schwierigen Zeiten auf zunehmende Kritik, die sich an der unentgeltlich geleisteten Arbeit der PatientInnen entzündete und von unterschiedlichen Seiten politisch funktionalisiert wurde. Aber Arbeit hatte auch eine hohe moralische Bedeutung für den Einzelnen, über sie definierte sich die Teilhabe an der Gesellschaft, sie entschied über Aus- oder Einschluss. Diese Perspektive findet sich in zahlreichen Aussagen der PatientInnen, die zum einen in der Anstalt einen sicheren Ort in unsicheren Zeiten sahen, andererseits sich über die von ihnen geleistete Arbeit eine Rückkehr in die Gesellschaft erhofften, was im Falle der Anstalten Langenhorn und Uchtspringe nur selten eintraf. Über das Konzept von Arbeit als einem zentralen Element, über das sich die Anstalt organisierte, öffnete sie zugleich die Grenzen in den Außenraum; Grenzen, die mit Konzepten wie der Dauerbad- und der Bettbehandlung noch sehr deutlich gezogen wurden. Beschleunigend auf diese mit der Arbeitstherapie in Gang gesetzte Durchlässigkeit der einstigen Grenzen wirkten dabei die Entwicklungen der Weimarer Zeit, in der Arbeit zum Konstituens des Staates erhoben wurde, und deren Kräfte bis in die Anstalt wirkten und sich auch im Wahrnehmen, Denken und Handeln ihrer BewohnerInnen äußerten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Die Irrenanstalt Langenhorn um 1910 - Heilanstalt oder landwirtschaftliche Produktionsstätte? In: Historia Hospitalium. Zeitschrift der deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte 28 (2012/13), S. 255-268
Heinz-Peter Schmiedebach / Monika Ankele
- Innerhalb und außerhalb der Anstalt. Zu den Dynamiken von Arbeit als Therapie in der Weimarer Zeit. Das Beispiel der Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn. In: Medizinhistorisches Journal 48 (2013), S. 241-272
Monika Ankele
- "Wie zusammen leben?' Die Patienten des ,gesicherten Hauses' in der Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn im Kontext der Weimarer Zeit". In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20 (2014), S. 455-489
Monika Ankele
- "...daß diese Heilmethode auch von anderen als ärztlichen Gesichtspunkten aus bewertet und beurteilt werden muß." Zu den sozial- und gesellschaftspolitischen Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie in der Weimarer Zeit. In: Monika Ankele / Eva Brinkschulte (Hgg.): Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit als Therapie in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2015, S. 157-185
Monika Ankele
- Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit als Therapie in Psychiatrien vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2015
Monika Ankele / Eva Brinkschulte (Hg.)
- The patient's view of work therapy: The mental hospital Hamburg-Langenhorn during the Weimar Period. In: Waltraud Ernst (Hg.): Work, Psychiatry, Society, c. 1750-2010. Manchester University Press, 2016. - 9780719097690. Kap. 11, S. 238-261
Monika Ankele