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Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment: Geschichte und Poetik einer hybriden Gattung

Fachliche Zuordnung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung Förderung von 2010 bis 2019
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 176970773
 
Erstellungsjahr 2019

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Bei genauerer historischer Analyse erweist sich das Künstlerbuch als eine ästhetische Synthese aus Sprachkunst, Bildkunst und Buchkunst, die im Verhältnis ihrer Komponenten konzeptionell projektiert und koordiniert ist. Theoretische Grundlage für die plurimediale Gattung ist die antike Vorstellung von einer Affinität der Malerei und Poesie. Protoypen begegnen uns in den Hochkulturen, vor allem in den thanatologischen Büchern der Ägypter, die sich durch eine Trias von Bilderschrift, Illustration und Rollenform auszeichnen. Nachdem in Griechenland Homer in seiner Ilias durch die Beschreibung des Schilds von Achill ein Paradigma für die Symbiose von Literatur und bildender Kunst geschaffen hat, entstehen im Hellenismus die textfiguralen Technopägnien, welche Aufnahme in das große Buchwerk der Anthologia Graeca finden. Im frühen Mittelalter gestaltet Hrabanus Maurus, der Praeceptor Germaniae, einen Zyklus aus Carmina figurata, der als Prachtkodex konzipiert und Kaiser Ludwig dem Frommen gewidmet ist. Liturgische und paraliturgische Texte, allem voran die Stundenbücher, werden im hohen und späten Mittelalter in der künstlerisch hochkarätigen Form von Codices illuminati gestaltet, die z.B. bei den Antiphonaren durch Notationen eine weitere musikalische Dimension hinzugewinnen. Die in der Spätantike an Werken von Homer und Vergil entwickelte Epenillustration persistiert kontinuierlich im literarischen Kanon bis zur frühen Neuzeit in vielfältigen Techniken und Bildkonstellationen. Zugleich generiert das Experimentieren mit neuen Buchformen die Konzeption von ingeniösen Miniaturbibeln, Kreisbüchern, Herzbüchern, Vexierbüchern und Buchattrappen. Spätestens mit der frühen Neuzeit kommt es zu einer Ausdifferenzierung des bibliomorphen Gattungssystems im Kontext von Naturbezügen (Herbarien, Bestiarien) und Kulturkonstellationen (Wappenbüchern, Turnierbüchern), wobei im Barock das Emblembuch die visuelle Kultur dominiert. Im 18. und 19. Jahrhundert finden sich Innovationen und Experimente im neuen Genus des fiktionalen Prosaromans, insbesondere bei Laurence Sterne und Lewis Carroll, aber auch „Books for children“ entwickeln interaktive und ludistische Formen in Gestalt von Harlequinaden, Pop-up-Bücher und Leporellos. Eine große Wirkung auf die Avantgarden entfaltete Stephane Mallarmé mit seinem Coup de dés, seinen Reflexionen über das Buch als geistiges Instrument und seinem exzentrischen Projekt Le Livre. Von erheblicher Bedeutung für die avantgardistische Buchästhetik sind Apollinaires Calligrammes, Marinettis futuristische „Parole in libertà“ und die surrealistischen Malerbücher von Max Ernst und Joan Miró. Das Projekt erschließt erstmals die historische Dimension der Gattung „Künstlerbuch“, verweist auf Kontinuitäten, Zäsuren und neue Ansätze in den epochalen Verläufen und eröffnet durch die Integration außereuropäischer Paradigmata neue interkulturelle Perspektiven. In theoretischer Hinsicht beleuchtet das komparatistische Unternehmen auch den Einfluss interartistischer Theorien auf zentrale Buchkonzepte und arbeitet mit interdisziplinären Methoden wegweisend den bisher vernachlässigten Experimentcharakter von Buchästhetik in ihren vielfältigen Facetten heraus.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Das Rebus-Sonett der frühen Neuzeit in diskursiven Kontexten. Kalligraphie – Kryptographie – Mnemonik – Hieroglyphik – Mystik, in: Sonett-Künste: Mediale Transformationen einer klassischen Gattung, hg. von Erika Greber und Evi Zemanek, Dozwil (Schweiz) 2012, S. 283-314
    Ulrich Ernst
  • Der Psalter als Künstlerbuch. Numerologie – Kalligraphie – Ikonologie, in: Bücher als Kunstwerke. Von der Literatur zum Künstlerbuch, hg. von Monika Schmitz-Emans und Christian A. Bachmann, Essen 2013 (Mirabiblia 1), S. 15-74
    Ulrich Ernst
  • Der Roman als Transkript der Kathedrale bei Hugo, Huysmans und Proust. Gattungsprofile – Illustrationszyklen – Bucharchitekturen, in: Text-Architekturen. Baukunst (in) der Literatur, hg. von Robert Krause und Evi Zemanek, Berlin 2014, S. 31-64
    Ulrich Ernst
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110347159.31)
  • Literaturhistorie, Scientia universalis und ekphrastische Lyrik. Dichterporträts von Homer bis Ronsard in Giambattista Marinos ‚La Galeria‘, in: Literaturgeschichte und Bildmedien, hg. von Achim Hölter und Monika Schmitz-Emans, Heidelberg 2015 (Hermeia 14), S. 77-123
    Ulrich Ernst
  • Tom Phillips’ visueller Roman A Humument und seine Konzeption als Künstlerbuch. Zu Konvergenzen zwischen ästhetischer Theorie, literarischer Komposition und medialer Umsetzung, in: Paradigmata zum Künstlerbuch in der Moderne. Gattungen und Werke von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart, hg. von Ulrich Ernst und Susanne Gramatzki, Berlin 2015 (Mirabiblia 2), S. 177-216
    Ulrich Ernst
  • Experimentelle Makroästhetik. Buchkünstlerische Zyklen mit Carmina figurata von Simias von Rhodos bis Guillaume Apollinaire, in: Experimentelle Poesie in Mitteleuropa. Texte – Kontexte – Material – Raum, hg. von Klaus Schenk, Anne Hultsch und Alice Stašková, Göttingen 2016, S. 39-90
    Ulrich Ernst
  • Präformationen des Pop-up-Buchs in Kasualdrucken des 17. und 18. Jahrhunderts. Zu typographisch aufwendigen Faltblättern mit visuellen Gedichten, in: Bewegungsbücher. Spielformen, Poetiken, Konstellationen. hg. von Christian A. Bachmann, Laura Emans und Monika Schmitz-Emans, Berlin 2016 (Mirabiblia 4), S. 19-51
    Ulrich Ernst
  • Dante Alighieris Comedia und Dan Browns Inferno. Muster und Adaption unter generischen und buchmedialen Aspekten, in: Komparatistische Perspektiven auf Dantes ‚Divina Commedia‘. Lektüren, Transformationen und Visualisierungen, hg. von Stephanie Heimgartner und Monika Schmitz-Emans, Berlin 2017 (Spectrum Literaturwissenschaft 56), S. 255-344
    Ulrich Ernst
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110488036-011)
  • Die Bibel – Ein Zahlenkunstwerk. Zur numerischen Tektonik, Allegorik und Buchästhetik der Scriptura sacra, in: Vorträge der Geisteswissenschaftlichen Klasse 2014-2015, hg. von Meinolf Vielberg, Erfurt 2017 (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt; Sitzungsberichte 9), S. 11-36
    Ulrich Ernst
  • Irr- und Umwege zur Wahrheit. Zu diegetischen, textgraphischen und buchkonzeptuellen Labyrinthen von der Antike bis zur frühen Neuzeit, in: Irrtum – Error – Erreur, hg. von Andreas Speer und Maxime Mauriège, Berlin/Boston 2018 (Miscellanea Mediaevalia 40), S. 639-668
    Ulrich Ernst
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110592191-035)
 
 

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