Die Beobachtung der Welt. Der Beitrag von internationalen Statistiken und UN-Weltkonferenzen zur Entstehung einer globalen Vergleichsordnung, 1949-2009
Final Report Abstract
Ausgangspunkt des Projekts war die Frage nach dem Wandel der weltpolitischen Deutungsmodelle im Untersuchungszeitraum zwischen 1949 und 2009. Anhand einer umfassenden Analyse internationaler Statistiken und der Abschlussdokumente von UN-Weltkonferenzen gelang es nachzuweisen, wie sehr sich die Beobachtung der Welt sowie ihre Beschreibung in den vergangenen 60 Jahren geändert hat. Die zentralen Ergebnisse lassen sich in Form von vier eng miteinander verbundenen Gesamttrends zusammenfassen: Durchsetzung einer globalen Vergleichsordnung: Eines der wichtigsten Ergebnisse liegt in der Analyse der sukzessiven Etablierung einer globalen Vergleichsdynamik. Anhand der Auswertung ausgewählter internationaler Statistiken konnte nachgewiesen werden, wie eine tatsächliche weltweite Vergleichbarkeit – und zwar sowohl hinsichtlich der Vergleichseinheiten als auch der Vergleichskriterien – hergestellt wurde und sich schließlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchsetzen konnte. Bis in die 1960er Jahre orientieren sich Beschreibungen der Welt also eher an der Vorstellung verschiedener imperialer Zentren vs. Peripherien und eben nicht wie vermutet an der Unterteilung in gleichberechtigte Nationalstaaten. Tatsächlich konnte sich der Nationalstaat erst 1970 als einheitliche Beobachtungs- und Vergleichskategorie etablieren. Anhand unserer Analysen konnten wir zeigen, wie voraussetzungsvoll internationale Vergleichbarkeit mit Hilfe von Statistiken erst konstruiert werden muss. Etablierung der Welt als Ganzes/Die Welt als gemeinsamer Sozialraum: Mit der Herstellung von Vergleichbarkeit wird außerdem der Eindruck eines zusammenhängenden Ganzes erzeugt, der sich in der Durchsetzung der Beschreibung der Welt als eigenständige Aggregationsebene seit den 1960er Jahren in den internationalen Statistiken nachweisen lässt. So gibt es z.B. seit 1963 im UN Statistical Yearbook eine eigene, prominent platzierte Rubrik mit dem Titel „World Summary“, in der eine neue globale Aggregationsebene eingeführt wird. Diese Ergebnisse korrespondieren mit den Bemühungen in den frühen UN-Weltkonferenzen der 1960er Jahre, die gesamte Menschheit – jenseits der bis dahin dominierenden Unterschiede zwischen Kolonialmächten und Kolonialisierten resp. Industrie- und Entwicklungsländern – als homogene Einheit darzustellen. Sowohl die Statistiken als auch die Weltkonferenzen tragen letztlich also zur Entstehung und Sichtbarmachung einer neuen Wahrnehmung der Welt als einem gemeinsamen Sozialraum – einer Weltgesellschaft – bei. Kulturalisierung der Welt: Die Wahrnehmung und Beschreibung der Welt orientiert sich seit den 1980er Jahren zunehmend an kulturellen Differenzen und immer weniger an strukturellen Unterscheidungen. Entsprechend werden in den Abschlussdokumenten der Weltkonferenzen Diskriminierung und Ungleichheit seltener mit strukturellen und stattdessen häufiger mit kulturbezogenen Argumenten thematisiert. Gleichzeitig werden auch bereits bestehende Personenkategorien (z.B. Geschlecht, Rasse, Behinderung) weniger essentialistisch beschrieben, sondern eher als Ergebnis unterschiedlicher kultureller und sozialer Praktiken interpretiert (gender, culture/ethnicity, disability). Dieser grundlegende Wandel der globalen Beobachtungsschemata korrespondiert mit dem sog. „cultural turn“ in den Sozialwissenschaften. Diversifizierung des Personals der Weltgesellschaft: Viele der für uns heute so selbstverständlichen Personenkategorien, wie z.B. die indigenen Völker, die Menschen mit Behinderungen, kulturelle Minderheiten, aber auch Mädchen oder vulnerable Gruppen, fanden in den frühen Weltkonferenzen in den 1960er Jahren keine Erwähnung und wurden offenbar zu diesem Zeitpunkt auf der Ebene der Weltpolitik überhaupt noch nicht als relevante Sortierungsoptionen wahrgenommen. Im Vordergrund stand in dieser Zeit das Bemühen um die kommunikative Herstellung der Menschheit als globale Einheit. Erst vor dem Hintergrund dieser etablierten Vorstellung einer (mehr oder wenige) homogenen Weltgemeinschaft kam es dann zu einer internen Differenzierung der Menschheit, die kommunikativ vor allem an den Menschenrechtsdiskurs anschloss. Die Angehörigen dieser neuen globalen Personenkategorien erhielten dann nicht nur ein Recht auf kulturelle Differenz, sondern teilweise auch gruppenspezifische Sonderrechte. Die Einheit der Welt wurde also abgelöst von einer zunehmenden Vielfalt (cultural diversity), die spätestens in den 1990er Jahren zum neuen Leitkonzept der Weltgesellschaft erklärt wurde.
Publications
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