Die Produktion von Chronizität im Alltag psychiatrischer Versorgung und Forschung in Berlin
Final Report Abstract
Das Projekt bearbeitete im Feld einer Sozialanthropologie des Medizinsystems die Frage, wie Chronizität im Sinne langanhaltender Krankheitszustände im Alltag der psychiatrischen Versorgung produziert wird. Unter Anwendung praxisorientierter Ansätze der empirisch-ethnographischen Wissenschaftsforschung verfolgten wir das Ziel, die Bezüge der Klassifikation „chronisch psychisch krank“ zu unterschiedlichen Akteuren, Wissensformen und Materialitäten zu untersuchen. Im Vordergrund stand dabei eine relationale Beschreibung und Analyse der Prozesse, die in unterschiedlichen institutionellen und außerinstitutionellen Alltagen mit der Klassifikation in Verbindung stehen. Ein weiteres Ziel des Projekts war die Entwicklung einer interdisziplinären und kollaborativen Forschungsmethodik zwischen Europäischer Ethnologie, Psychiatrie und Psychologie. Die ethnographische Untersuchung fokussierte drei Bereiche der psychiatrischen Versorgung: die Klinik, den außerklinischen, komplementären Bereich (Gemeindepsychiatrie) sowie die psychiatrische Forschung und Versorgungsforschung. Darüber hinaus analysierten wir den Alltag von Menschen mit psychiatrischer Diagnosestellung außerhalb von psychiatrischen Einrichtungen. Während psychiatrische Diagnosen eine notwendige formale Bedingung für die psychiatrische Versorgung in der Klinik sowie in der Gemeindepsychiatrie darstellen, beeinflusst die Klassifikation „chronisch krank“ unseren Untersuchungen nach den alltäglichen Ablauf der Versorgung. Die Klassifikation ist demgemäß eine Art informelles Bindeglied zwischen psychischen Zuständen, körperlichen Symptomen, und Menschen mit psychiatrischen Diagnosen, einerseits, sowie institutionellen Räumen, Verfahren, Abläufen und MitarbeiterInnen, andererseits. Unsere These ist daher, dass die Klassifikation nicht nur mit den Betroffenen interagiert, die sie definiert, sondern ebenso mit dem Versorgungssystem. Darüber hinaus zeigen unsere Analysen, dass die Klassifikation derart verwendet wird, dass jene, die als „chronisch krank“ definiert werden, per Definition das institutionelle Hilfesystem benötigen. Chronisch Kranke, die ohne Hilfesystem auskommen, sind in der institutionellen Verwendung der Klassifikation nicht mitgedacht. Das führt zu einem selbstverstärkenden Effekt: Je mehr Hilfen, umso mehr verschränkt sich der Alltag der als „chronisch“ klassifizierten Person mit dem psychiatrischen Versorgungssystem. Wichtig ist aus unserer Sicht, dass Psychiatrie einen ganz bestimmten Raum schafft, in dem auch Chronizität zu einem spezifischen Zustand, einer spezifischen Form von Handlungsfähigkeit, wird. Chronizität wird unter einer praxistheoretischen Perspektive zu einer Eigenschaft, die nicht auf die einzelne Person, ihre Symptome oder den individuellen Krankheitsverlauf bezogen ist, sondern in Wechselwirkung zwischen der Person, ihrem Gesundheitszustand und dem spezifischen Arrangement des institutionellen Versorgungssystems hervorgebracht wird. Chronizität – die Persistenz psychischer Erkrankung – ergibt sich daher nicht aus einer Stabilisierung von Kranksein durch individuelle (genetische, psychische) oder strukturelle (Gesellschaft, Medizin) Faktoren. Vielmehr entsteht sie durch das wiederholte Zusammenbrechen von etablierten Routinen beim Wechsel der Umwelt von klinischer Station zurück in die Stadt. Die Ursache für eine anhaltende Chronifizierung liegt damit in den unterschiedlichen praktischen Anforderungen, die klinische und außerklinische Lebenswelten an die Betroffenen stellen. Diese Ergebnisse erfordern weitergehende Analysen insbesondere der städtischen Räume und ihre Wirkungen auf psychische Gesundheit. Vorläufig bleibt daher die Frage offen, wie sich unterschiedliche Behandlungs-, Beschäftigungs- und Wohnmodelle mit den städtischen Routinen der Betroffenen vereinbaren lassen und wie psychiatrische Versorgungsmodelle selbst städtische Räume prägen und hervorbringen.
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