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Die Produktion von Chronizität im Alltag psychiatrischer Versorgung und Forschung in Berlin
Antragsteller
Professor Dr. Jörg Niewöhner, seit 4/2015
Fachliche Zuordnung
Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung
Förderung von 2010 bis 2016
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 164177776
Das Projekt zielt in das Feld einer Sozialanthropologie des Medizinsystems. Aus dieser Perspektive bedürfen medizinische Indikationen und Klassifikationspraxen einer detaillierten empirischen und ethnographischen Beobachtung und kritischer Reflektion, um deren Wirkungen auf „Kranksein“ in Alltagswelten besser verstehen und in neuer Weise thematisieren zu können. Gerade die – umstrittene – Klassifizierung „chronisch psychisch krank“ beeinflusst dabei wesentlich das Selbst- und Krankheitsverständnis der Betroffenen und ist Voraussetzung für spezifische Therapiemöglichkeiten und Behandlungspfade. Sie eröffnet zudem Zugang zu medizinischen, sozialtherapeutischen und finanziellen Ressourcen für Patienten. Dabei ist Chronizität keine medizinisch eindeutig definierte Diagnosekategorie, sondern eine unscharfe Klassifizierung, die in einem Geflecht aus klinischen, wissenschaftlichen, sozialrechtlichen, ökonomischen und politischen Praxen sowie Patientinnenalltagen produziert wird. Das Projekt möchte die Herstellung von Chronizität in der Psychiatrie daher als Prozess untersuchen und die Produktion sowie Stabilisierung dieser Klassifizierung vor allem mit Blick auf ihre vielfältigen Alltagswirkungen problematisieren. Es folgt dabei praxisorientierten Ansätzen der neueren empirisch-ethnographischen Wissenschaftsforschung. Untersucht werden Praxen, mit denen Akteure, Wissen und Materialitäten auf spezifische Weise in Beziehung gesetzt werden; die resultierenden sozialen Konstellationen werden relational und prozessual analysiert. Damit leistet das Projekt auch einen Beitrag für die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Lebenswelt und möchte die Perspektive der Sozialanthropologie in den Diskurs der Psychiatrie einbringen.Die für die Untersuchung relevanten Akteure und Felder wurden im Rahmen einer sechswöchigen explorativen Feldforschung im psychiatrischen Versorgungssystem Berlins identifiziert. Auf dieser Grundlage wird das empirische Arbeitsprogramm auf drei für die Fragestellung zentrale Bereiche fokussiert: (A) medizinisches Versorgungssystem und Forschung; (B) komplementäre Versorgungseinrichtungen; (C) privater Alltag der Betroffenen außerhalb der Institutionen. Methodisch kombiniert das Projekt Teilnehmende Beobachtungen, ethnographische und Experten-Interviews sowie Analysen von (Kranken-)Akten und einschlägigen Dokumenten. Diese Methodenkombination wird eine dichte ethnographische Beschreibung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, klinischem Alltag, (Gesundheits-)Verwaltung und den sozialen Lebenswelten psychisch kranker Menschen ermöglichen, die als Ergebnis relationaler Wissenspraxen konzipiertwerden.Das Projekt wird seine Befunde im Kontext psychiatrischer Debatten über diagnostische Praktiken, Klassifizierung und Standardisierung analysieren. Um diese Kooperation zwischen Ethnographie und Psychiatrie im Modus der Forschung umzusetzen, wird das Projekt unter Leitung einer sozialanthropologischen Perspektive gemeinsam mit der Psychiatrie und der klinischen Praxis beantragt und in interdisziplinärer Kooperation durchgeführt.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
Beteiligte Personen
Professor Dr. Sebastian von Peter; Professor Dr. Manfred Zaumseil
Ehemaliger Antragsteller
Professor Dr. Stefan Beck, bis 4/2015 (†)