Sprachliche Konstruktion sozial- und wirtschaftspolitischer Krisen in der Bundesrepublik Deutschland von 1973 bis heute
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Krisen sind elementare Bestandteile des Kapitalismus; zu Krisenerfahrungen werden sie aber erst, wenn sie in der Öffentlichkeit als ‚Wirtschaftskrise‘ wahrgenommen und dargestellt werden. Den Ausgangspunkt des Projekts bildet die These, dass sich in der Art und Weise, wie Sprache gebraucht wird, wenn über ‚Krisen‘ geredet wird, Einstellungen und Denkweisen manifestieren und sich darin zudem zeigt, wie eine Kommunikationsgemeinschaft ‚Krisen‘ erlebt und versteht. Gegenstand der Untersuchungen waren fünf gesellschaftliche Krisen im Zeitraum von 1973 („Öl-Krise“) bis 2009 („Finanzkrise“). Diese wurden auf der Basis eines umfangreichen Textkorpus in Längsschnittanalysen systematisch miteinander verglichen, um aus diskurshistorischer Sicht den Fragen nachzugehen, (a) ob die sprachliche Konstruktion von ‚Krisen‘ in gleichgerichteten iterativen kommunikativen Akten und sprachlichen Mustern verläuft, (b) sprachliche Mittel neu und gehäuft auftauchen und, falls dies der Fall ist, (c) wie sich ihr Gebrauch auf das Denken darüber auswirkt, was eine ‚Krise‘ ist bzw. sein soll und welche (ideologischen) Konzepte und Mentalitäten ihr zugrunde liegen. Im Rahmen der Projektarbeit wurden (a) ein analytisches Gesamtkonzept, ein diskurs- und mentalitätsgeschichtliches Analyseraster sowie eine Korpusmanagement- und Analysesoftware („INGWER“) entwickelt, (b) ein Zeitungskorpus im Umfang von 11.400 Texten erstellt, aufbereitet und teilweise quantitativ, teilweise qualitativ ausgewertet und (c) ca. 20 korpusgestützte linguistische Fallstudien (lexikometrische Untersuchungen im Anschluss an Lexiko3, Analysen von Schlüsselwörtern, konzeptuellen Metaphern, Framees und Argumentationsmustern) durchgeführt und publiziert. Der Einsatz lexikometrischer Methoden (Multifaktorenanalysen, Kookkurrenzanalysen, Spezifität des Vokabulars) ermöglichte einen Vergleich des Vokabulars aller fünf ‚Krisen‘ mit dem Ergebnis, dass sich insbesondere das Vokabular aus den Zeiträumen 1982, 1997 und 2003 ähnelt, während sich das Vokabular der „Ölkrise“ (1973) und der „Finanzkrise“ (2008/2009) jeweils am stärksten von allen anderen unterscheidet. Die diskursvergleichende Untersuchung der wichtigsten Schlüsselwörter, darunter Krise selbst, geht konform mit dem metaphernanalytischen Befund, dass in den 1970er Jahren ein Primat der Politik über die Wirtschaft festzustellen ist, der in einer Steuerungs- und Lenkungsmetaphorik Ausdruck findet, während in den Debatten um die Agenda 2010 die Wettbewerbs- und die Krankheitsmetaphorik auf eine Befreiung der (gelähmten, kranken etc.) Wirtschaft von die Beweglichkeit und Flexibilität behindernden staatlichen Maßnahmen zielt. Hinsichtlich der Argumentationsmuster wurde das Modell der topologischen Diskursformation entwickelt, mit dem es möglich ist, systematisch die für jede „Krise“ angeführten „Daten“, ihre Ursachen, die jeweils angepeilten Ziele sowie die Maximen und Werte, mit denen (angestrebte) Entscheidungen begründet werden, zu vergleichen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2013): Korpusgestützte Zugänge zum öffentlichen Sprachgebrauch: spezifisches Vokabular, semantische Konstruktionen und syntaktische Muster in Diskursen über „Krisen“. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen Die Macht des Deklarativen. Berlin / New York 2013, 329-358
Ziem, Alexander / Scholz, Ronny / Römer, David
- (2013): Lexikometrie meets FrameNet: das Vokabular der „Arbeitsmarktkrise“ und der „Agenda 2010“ im Wandel. In: Wengeler, Martin / Ziem, Alexander (Hrsg.): Sprachliche Konstruktionen von Krisen: Interdisziplinäre Perspektiven auf ein fortwährend aktuelles Phänomen. Bremen 2013, 155-184
Ziem, Alexander / Scholz, Ronny
- Argumentstruktur-Konstruktionen als diskurslinguistische Analysekategorie. In: Zeitschrift für Semiotik 35(3-4)/2013, 447-470
Ziem, Alexander
- Sprachliche Konstruktionen von Krisen. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein fortwährend aktuelles Phänomen. Bremen 2013
Wengeler, Martin / Ziem, Alexander (Hrsg.)
- „Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel.“ Zur Analyse bundesdeutscher Wirtschaftskrisen-Diskurse zwischen deskriptivem Anspruch und diskurskritischer Wirklichkeit. In: Meinhof, Ulrike Hanna/Reisigl, Martin/Warnke, Ingo H. (Hrsg.): Diskurslinguistik im Spannungsfeld von Deskription und Kritik. Berlin 2013, 37-63
Wengeler, Martin
(Siehe online unter https://doi.org/10.1524/9783050061047.37) - Wie über Krisen geredet wird. Einige Ergebnisse eines diskursgeschichtlichen Forschungsprojekts. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173/2014, 52-75
Wengeler, Martin / Ziem, Alexander
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/BF03379705)