Historische Methode und Arbeitstechnik der Magdeburger Zenturien. Kirchengeschichtsschreibung in einem gelehrten Netzwerk im 16. Jahrhundert.
Final Report Abstract
Die Magdeburger Zenturien waren die erste umfassende Kirchengeschichte lutherischer Provenienz. Sie wurden in einem Autorenkollektiv verfasst, der Druck in dreizehn Bänden erfolgte in Basel zwischen 1559 und 1574. Die Monografie untersucht die Entstehungsbedingungen der Zenturien in den Wechselwirkungen von Konfessionalisierung, Historisierung, Kontroverstheologie und binnenprotestantischem Wettbewerb, beschreibt die Herausbildung eines Arbeitsgremiums und Netzwerkes zur Materialbeschaffung, überprüft die Arbeitspraktiken vom Exzerpt bis zur Quellenkritik und analysiert die sozialen Bedingungen von Geschichtsschreibung. Insgesamt 154 meist handschriftlich überlieferte Dokumente, die die Planungen und Diskussionen über die Regeln einer Kirchengeschichtsschreibung in Briefen, Gutachten und Anweisungen nachweisen, werden in einer digitalen Edition mit Kommentaren und abgekürzt zusammengefassten Übersetzungen in der Wolfenbütteler Digitalen Bibliothek (WDB) veröffentlicht. Diese Quellentexte ermöglichen Einblicke in Kommunikation und historische Praxis eines frühneuzeitlichen gelehrten Netzwerks. Die Edition ist integral mit der Monografie verbunden, steht aber auch für sich. Die Monografie soll in einer der Wolfenbütteler Reihen erscheinen. Netzwerk und Arbeitspraktiken der Zenturien wurden deskriptiv erfasst. Hervorzuheben sind die besondere Stellung des Wiener Hofbibliothekars Caspar von Nidbruck bei der Quellenbeschaffung und methodischen Diskussion um eine rechte Geschichtsschreibung und die europaweite Ausrichtung der Korrespondenzen, die im Falle der Verbindungen zu höchsten Kreisen in England mit politischen Interessen zusammenfielen. Recht überraschend erscheinen die Kontakte zu reformkatholischen Kreisen im Rheinland, die allein aus deren Hinwendung zu protestantischer Abendmahls- und Gnadenlehre zu erklären sind. Gleichwohl zeigte sich hierin eine Entwicklungsoffenheit des Luthertums in der Mitte der 1550er Jahre. Einen wirkmächtigen Anteil an der Gruppenbildung hatte das gruppeninterne Gutachten- und Instruktionswesen, das in Abhängigkeit zu Praktiken universitärer Studienanweisungen und kirchlicher Visitationen ausgebildet wurde. Detailuntersuchungen zur dialektischen Analytik der Zenturien und ihrer topischen Gliederung haben ergeben, dass die Zenturien in methodischer Abhängigkeit zu den von Melanchthon entwickelten Arbeitsverfahren stehen, diesen jedoch in Reinheit der Anwendung und Konsequenz zu überbieten gedachten. Es entstand eine stärker an Luther orientierte, wortzentrierte theologische Topik. Konzepte der Wahrheitsprüfung und Quellenkritik übernahmen die Zenturien von historisch und philologisch kritisch arbeilenden Humanisten, denen sie zwar stilistisch unterlegen waren, nicht aber im quellenkritischen Potential. Die Kargheit der Darstellung - topisch gegliederten Artikeln sind Quellennachweise zugeordnet - entsprach ihrem exegetischen Anspruch, die historischen Fakten einer nach Glaubensartikeln geordneten theologischen Wahrheit zuzuweisen. Der Wahrheitsgehalt der Quellen wurde nämlich an ihrer evangelischen Apostolizität gemessen. Indem die eigene Bekenntnislehre zum Maßstab erhoben wurde, integrierten die Zenturiatoren die Bibel und die Lehre der Urkirche in die eigene Doktrin. „Chronopolitik" der Zenturien war es, die Abweichungen der Zwischenzeit als Irrlehre zu deklarieren. Historisierung wurde zum Kennzeichen falscher Lehre. Die Topik stellt stabile, rationale Aussagen her und wendet sich von einer Theologie ab, die Textrekonstruktion im eigenen Verstehenshorizont betreibt. Ihr Schwerpunkt verschiebt sich vom Wahrheitszeugen auf das Wahrheitszeugnis, vom humanistischen Fetisch Handschrift als Objekt auf die Fetischisierung eines theologisch abgestützten Inhalts. Die Leistungen der Zenturien bestehen auch in der Übertragung altgläubiger martyrologischer und hagiografischer Muster in eine protestantische Leidens- und Verfolgungsgeschichte. Die Wiedererinnerung des Evangeliums und der vergessenen Kirchengeschichte wurde zu einem reformatorischen Akt. Zugleich bot Kirchengeschichte im Modus der Verfolgung den Lutheranern ein Identitätsmodell. Die Motivationen für diese Geschichtsschreibung lagen in der historischen Legitimierung der eigenen Kirche und Lehre, in der Selbstverortung der Verfasser im Heilsprozess und der Grundlegung einer eigenen „Gewissensgewissheit".
Publications
- Testimony of True Faith and the Ruler's Mission. The Middle Ages in the Magdeburg Centuries and the Melanchthon School, in: Archiv für Reformationsgeschichte 101 (2010), 396-420
Helwig Schmidt-Glintzer
- Die Geburt protestantischer Kirchengeschichtsschreibung aus theologischer Topik. Zur historischen Methode der Magdeburger Zenturien, in: Hermeneutik - Methodenlehre - Exegese. Hg. v. Günter Frank u. Stefan Meier-Oeser (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 11), Stuttgart/ BadCannstatt 2011, 127-146
Helwig Schmidt-Glintzer
- Lachen für den wahren Glauben. Lutherische Pasquillen im publizistischen Diskurs der Interimszeit, in: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250-1750), hg. v. Stefan Biessenecker u. Christian Kuhn, Bamberg 2012, 241-268
Helwig Schmidt-Glintzer