Latenzbasierte retinale Kodierung visueller Stimuli bei Augenbewegungen
Final Report Abstract
Im Zentrum des Projekts “Latenzbasierte Retinale Kodierung visueller Stimuli bei Augenbewegungen” stand die Frage, inwiefern Antwortlatenzen retinaler Ganglienzellen zur Kodierung visueller Reizparameter beitragen können. Dafür wurden extrazelluläre Multielektrodenableitungen an der Schildkrötenretina mit Hilfe von Reizrekonstruktionsmethoden analysiert und um Modellsimulationen ergänzt. Da dem Nervensystem normalerweise keine Information über die Zeitpunkte externer Reizänderungen zur Verfügung steht, wurde Latenz als relative Zeit zwischen starken Änderungen der Populationsaktivität und dem Auftreten einzelner Aktionspotentiale betrachtet. Für den Fall plötzlicher großflächiger Änderungen der Lichtintensität wurden bei transient antwortenden ON/OFF-Zellen der Schildkrötenretina charakteristische aus zwei Bursts bestehende Spikemuster gefunden, deren Spikeanzahl und Latenz in nichtlinearer Weise vom Stimuluskontrast abhängen. Eine Diskriminanzanalyse zur Stimulusrekonstruktion ergab, dass die Latenzen die Spikeanzahl der beiden Bursts sich gegenseitig ergänzende Informationen über visuelle Reize liefern können. Der Entstehung von Spikemustern im retinalen Netzwerk wurde mit einer Kombination aus Modellsimulationen und Experimenten nachgegangen. Es konnte nachgewiesen werden, dass ein häufig als Standard angesehenes linear-nichtlineares Filtermodell retinaler Verarbeitung die Zeitstruktur der beobachteten Ganglienzellantworten nicht reproduzieren kann. Dafür müssen zusätzlich eine Rückkopplungsschleife zur Einführung von Gain Control und die Adaptation von Spikeraten angenommen werden. Zur Analyse der physiologischen Grundlagen dieser Mechanismen wurde ein physiologienahes Modell der retinalen Verarbeitung entwickelt, das die Antworten aller retinaler Zelltypen reproduziert. In Kombination mit experimentellen Ergebnissen zeigte es, dass die Spikemuster der retinalen Ganglienzellen entscheidend durch ein Feedback-Netzwerk von Amakrinzellen geprägt werden. Auch für den Fall bewegter Reizmuster konnten Hinweise auf eine den klassischen Ratencode ergänzende Latenzkodierung gewonnen werden. Mit Hilfe Bayes’scher Reizrekonstruktion wurde zunächst basierend auf den instantanen Feuerraten retinaler Ganglienzellen gezeigt, dass Geschwindigkeit, Richtung und Beschleunigung bewegter visueller Reizmuster durch die Antworten richtungsspezifischer Ganglienzellen gemeinsam kodiert werden. In Kombination mit Antworten von Ganglienzellen, die ohne Richtungspräferenz auf bewegte Muster reagieren, ergibt sich für sich die gesamte Population retinaler Ganglienzellen eine sehr gute Rekonstruktion des zur Stimulation verwendeten Bewegungsmusters. Antwortlatenzen lieferten eine nur unwesentlich schlechtere Rekonstruktion der Mustergeschwindigkeit als Spikeraten. Eine Kombination beider Antworteigenschaften führte jedoch nicht zu einer verbesserten Kodierung der Mustergeschwindigkeit. Bayes’sche Reizschätzung lieferte Hinweise darauf, dass die stark durch die Vorgeschichte der Reizung beeinflussten Antwortlatenzen nach Reizänderung eine sehr schnelle erste Reizschätzung ermöglichen könnten. Ergänzend könnte eine präzisere aber langsamere Reizrekonstruktion basierend auf Spikeraten erfolgen. Hierbei könnten starke Änderungen der Populationsaktivität dem Nervensystem Reizänderungen signalisieren und als Referenzpunkte für die Stimulusschätzung dienen.
Publications
- (2006) Complex spike event pattern of transient ON/OFF retinal ganglion cells. J Neurophysiol 96:2845- 2856
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- (2006) The temporal structure of transient ON/OFF ganglion cell responses and its relation to intra-retinal processing. J Comput Neurosci 21:131-151
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- (2007) Contribution of individual retinal ganglion cell responses to velocity and acceleration encoding. J Neurophysiol 98: 2285-2296
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- (2009) Analysis of Neuronal Data: Bayesian Stimulus Reconstruction. In R. Leidl and A.K. Hartmann (eds.) Modern Computational Science 09. BIS- Verlag, Oldenburg. ISBN 3814221699. S. 311-323
Kretzberg J