Juristische Urteile über Täter und Opfer in Vergewaltigungsfällen sind normativ als datengesteuert, d.h. von den spezifischen Merkmalen des Einzelfalls bestimmt, definiert und sollten von schematischen Informationsverarbeitungsprozessen auf der Basis allgemeiner Vorstellungen über Vergewaltigungen unbeeinflusst sein. Im Gegensatz zu dieser normativen Sichtweise wurde in einer breiten Forschungsliteratur gezeigt, dass Beurteiler in ihrer Einschätzung von Tätern und Opfern, insbesondere bei der Verantwortungsattribution, von generalisierten Schemata geleitet werden, wie etwa der Überzeugung, dass Frauen selbst durch ihr Auftreten oder Verhalten sexuelle Gewalthandlungen provozieren. Im vorliegenden Projekt wurde der Einfluss schematischer Informationsverarbeitungsprozesse bei der Beurteilung von Vergewaltigungsszenarien in insgesamt 7 experimentellen Studien in Deutschland und Großbritannien belegt. Es wurde gezeigt, dass angehende Juristinnen in beiden Ländern bei der Beurteilung von Vergewaltigungsfallen Aspekte jenseits der juristischen Definition von Vergewaltigung zur Beurteilung der Verantwortlichkeit von Tätern und Opfern heranziehen und sich dabei von Vergewaltigungsmythen und -stereotypen leiten lassen. Je stärker ein Fall vom Stereotyp der "echten Vergewaltigung" abwich, um so ausgeprägter war die Tendenz, dem Opfer eine Mitschuld zuzuweisen und um so geringer die dem Täter zugeschriebene Verantwortung. Je höher die individuelle Vergwaltigungsmythenakzeptanz der Teilnehmerinnen, desto höher war die dem Opfer zugeschriebene Mitschuld und desto geringer die wahrgenommene Täterverantwortung, Untersuchungen mit studentischen Stichproben aus anderen Fächern in beiden Ländern sowie einer großen Bevölkerungsstichprobe in Großbritannien (7V = 2176) erbrachten sehr ähnliche Befunde. Es fanden sich Belege für einen kausalen Effekt der Vergewaltigungsmythenakzeptanz auf die Schuldzuweisung an die Opfer und die Entlastung der Täter. Die Darbietung der juristischen Vergewaltigungsdefinition vor der Beurteilung des Fallmaterials erwies sich als wirkungslos bezogen auf die Unterdrückung schemageleiteter und Förderung datengestützter Informationsverarbeitung. Auch eine massenmediale Aufklärungskampagne zur Sensibilisierung für Normwidrigkeit nichtkonsensueller sexueller Kontakte zeigte in der experimentellen Evaluation nicht die intendierte Wirkung. Dagegen konnte durch die Einführung einer Rechtfertigungsinstruktion der Rückgriff auf schematische Urteilsprozesse reduziert werden. Die Ergebnisse können zur Analyse der hohen Schwundquote bei der strafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigungsdelikten aus psychologischer Sicht beitragen. Darüber hinaus leisten sie einen Beitrag zur grundlagenwissenschaftlichen Social Cognition-Forschung, indem sie die Analyse von Strategien zur Förderung datenbasierter Informationsverarbeitung auf den Bereich der juristischen Entscheidungsfindung anwenden.