In dem hier berichteten Projekt wurde die online-Verarbeitung ver-präfigierter Verben untersucht, um zu ermitteln, wie diese morphologisch komplexen Wörter im mentalen Lexikon gespeichert sind und welche Faktoren ihre sprachliche Verarbeitung beeinflussen. Zur Untersuchung dieser Fragestellung wurde eine Serie von drei Reaktionszeit-Experimenten zum lexikalischen Entscheiden konzipiert, an denen insgesamt ca. 180 sprachgesunde Probanden teilnehmen. Alle drei Experimente versuchten zu klären, ob ver-präfigierte Verben ganzheitlich oder dekomponiert verarbeitet werden. Untersucht wurde der Einfluss der Faktoren Wortart des Stamms, morphologische Struktur, Vollformfrequenz, Stammfrequenz und semantische Transparenz. Die vorliegenden Ergebnisse belegen einen Einfluss der Wortart des Stamms, der Vollformfrequenz und der semantischen Transparenz auf die visuelle Worterkennung von ver-präfigierten Verben. Stammfrequenzeffekte konnten nicht eindeutig nachgewiesen, aber auch nicht definitiv ausgeschlossen werden. Hier wäre eine noch striktere Kontrolle des Materials erforderiich, wobei fraglich ist, ob dies anhand des restringierten Sets an ver-präfigierten Verben möglich ist. Die Effekte der Wortart des Stamms wurden im Zusammenhang mit der morphologischen Struktur der ver-präfigierten Verben betrachtet. Die Ergebnisse aus Experiment 1 sind kompatibel mit der Annahme, dass präfigierte Verben mit einen Verb- bzw. Nomen/Verb-Stamm eine rechtsverzweigende Struktur aufweisen, während Vollformen, die von einem Nomen oder Adjektiv abgleitet sind, ausschließlich flach zeriegt werden können. Experiment 2 überprüfte diese Hypothese mit Hilfe eines morphologischen Priming-Paradigmas und konnte diese nicht eindeutig bestätigen. Der Einfluss der internen morphologischen Struktur eines ver-präfigierten Verbs konnte somit nicht eindeutig geklärt werden. Ebenso ist der Status von Vollformen, die ein Unikalmorphem enthalten, unklar. Der Vollformfrequenzeffekt (Experiment 1 und Experiment 3) ist sowohl mit einer dekomponierten als auch mit einer holistischen Repräsentation ver-präfigierter Verben vereinbar. Die Tatsache, dass morphologisches Priming jedoch für niedrigfrequente Vollformen sehr viel effektiver ist als für hochfrequente Vollformen spricht für eine Zwei-Routen-Verarbeitung, wobei hochfrequente Vollformen holistisch und niedrigfrequente Vollformen dekomponiert verarbeitet werden. Unterschiedliche Reaktionszeiten für voll-transparente Vollformen gegenüber semi-transparenten und opaken Vollformen sprechen gegen eine graduelle Verarbeitung der semantischen Transparenz eines komplexen Wortes. Entscheidend ist, ob ein Wort vollständig transparent ist oder nicht. Innerhalb der nicht vollständig transparenten Zielwörter (unterschieden wurden semi-transparente und opake Formen) zeigten sich keine Unterschiede. Längere Antwortlatenzen für opake als für transparente Vollformen sprechen für eine obligatorische Präfixabspaltung bei ver-präfigierten Verben, die nur für transparente Vollformen erfolgreich ist.