Die Wiederkehr der epistéme in den studia superiora. Eine konfessionell vergleichende Untersuchung zum Gymnasialunterricht im 17. Jahrhundert
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die inhaltliche Auswertung der philosophischen Gymnasialdisputationen hat die These von der ,Wiederkehr der episteme in den studia superiora' im 17. Jahrhundert bestätigt. Uns liegt eine Fülle von Disputationen vor, die sich mit Inhalten der Physik und Metaphysik sowie der als Propädeutik verstandenen Logik auseinandersetzen. An den untersuchten Gymnasien gab es - mit Ausnahmen - zudem eigene Professuren für diese Fächer. Der Blick in die Disputationen zeigt, dass das unterrichtliche Niveau der Philosophiekurse schwankte. Neben der schlichten Reproduktion philosophischer Inhalte findet sich auch die reflexive Auseinandersetzung, in der verschiedene Standpunkte miteinander ins Gespräch gebracht werden. In der Regel erfolgte die Wiederbesinnung auf die epistemischen Inhalte in direkter Anlehnung oder auch in kritischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Schulphilosophie. Die Nähe zur zeitgenössischen Schulphilosophie belegt die wissenschaftspropädeutische Funktion der studia superiora. Als einheitliches Bild ergibt sich, dass nicht von einer Rückwärtsorientierung im Philosophieunterricht des 17. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Eindrücklicher Höhepunkt ist sicherlich die frühe Descartes-Rezeption in Hamm durch Abraham Gulich, der nicht nur aufgeklärte Inhalte, sondern auch eine aufgeklärte Geisteshaltung vertrat. Die Untersuchungen zum Physik- und Metaphysikunterricht in Soest zeigen, dass die Wandlungen im naturwissenschaftlichen Weltbild auch in den Schulen Westfalens angekommen sind. Das Lehren in Soest, Steinfurt und Hamm war von modernen Inhalten mitbestimmt und zeugt in der naturwissenschaftlichen Rezeption und in der Anlehnung an Descartes von der beginnenden Aufklärung, die bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in den Schulunterricht integriert wurde. Der quantitative Längsschnitt der Disputationen und die Dortmunder Disputationsreihe De Atheismo weisen daraufhin, dass es Säkularisierungsphasen - in Soest sogar eine Säkularisierungskrise - gegeben hat, die von den Zeitgenossen als bedrohlich wahrgenommen wurden. Eine kontinuierliche Entwicklung von der Reformation über die Orthodoxie zum Pietismus hat es in Soest, Steinfurt und Hamm nicht gegeben. Lediglich das Archigymnasium in Dortmund weist ein konstant theologisches Oberstufenprofil auf. Die schulphilosophische Einordnung der Disputationsthesen erbrachte insbesondere für das Archigymnasium in Soest Hinweise auf eine pluralistische Orientierung. Die lange Geltung des Ramismus an der Schule zeugt mehr von wissenschaftlichem Interesse als von konfessionspolitischer Einflussnahme. Die biographischen Forschungen zu den Schülern lieferten Hinweise auf die Veränderungen der Qualifizierungsfunktion der Oberstufen. Die biographischen Forschungen zu den Lehrern leisteten ihren Beitrag im Zusammenhang mit der schulphilosophischen Einordnung der unter ihnen gehaltenen Disputationen und führten zur These der Professionalisierungstendenz der Gymnasiallehrerschaft im Westfalen des 17. Jahrhunderts. Die zweifache methodische Vorgehensweise, bestehend aus der inhaltsanalytischen Auswertung einschlägiger Disputationen und der Quantifizierung der bislang bekannten Bestände, hat sich als vorteilhaft erwiesen. Der quantitative Längsschnitt weist ebenso wie die inhaltlichqualitative Auswertung der Disputationen auf Veränderungen im Schulprofil hin. Diese Veränderungen belegen die relative Flexibilität, mit der der Soester, Hammer und Steinfurter Gymnasialunterricht auf neue wissenschaftliche Anforderungen und aktuelle schulphilosophische Tendenzen an den Universitäten reagierte. Die Vorstellung eines methodisch und curricular durchgängig erstarrten, überdies konfessionell homogenisierten Unterrichts lässt sich nach unseren Ergebnissen für das 17. Jahrhundert ebenso wenig länger halten wie die Annahme, die Professionalisierung der Gymnasiallehrer sei eine Erscheinung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die Wiederkehr der episteme in den studia superiora signalisiert die Ausbreitung einer pluralistischen, zeitweise säkularisierten Kultur im 17. Jahrhundert in Westfalen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Säkularisierungsphasen der Oberstufen protestantischer Gymnasien in Westfalen im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Musolff, Hans-Ulrich / Jacobi, Juliane / Le Cam, Jean-Luc (Hrsg.): Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500- 1750, Köln u.a., S. 103-138
Musolff, Hans-Ulrich, Bermges, Stephanie und Denningmann, Susanne
- (2004): Welt als Maschine und Berührung der Körper. Ein Beitrag zum Oberstufencurriculum im 17. Jahrhundert. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 80. Jg., S. 267-288
Hellekamps, Stephanie
- (2005): Aneignung und Kritik des Ramismus in Soest. Logikunterricht am Archigymnasium im 17. Jahrhundert. In: Soester Zeitschrift, H. 117, S. 76-98
Denningmann, Susanne
- (2005): Das Soester Schulwesen und seine Ausbildungsfunktion für nicht-akademische Berufe um 1700. In: Hanschmidt, Alwin / Musolff, Hans-Ulrich (Hrsg.): Elementarbildung und Berufsbildung 1450-1750, Köln u.a. (Beiträge zur historischen Bildungsforschung 31), S. 167-205
Musolff, Hans-Ulrich
- (2007) Aufklärung am Archigymnasium - zur Krise der Orientierung an der lutherischen Orthodoxie 1697-1708. In: Soester Zeitschrift, H. 118/119, S. 73-91
Musolff, Hans-Ulrich, Bermges, Stephanie und Denningmann, Susanne
- (2007): Aufgeklärter Unterricht und Cartesische Affektenlehre: das Oberstufencurriculum eines westfälischen Gymnasiums um 1700 zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus. In: Paedagogica Historica, Vol. 43, S. 779-800
Hellekamps, Stephanie / Musolff, Hans-Ulrich
- (2007): Zur Professionalisierung der Lehrerschaft protestantischer Gymnasien in Westfalen 1600-1750. In: Bölsker, Franz / Kuropka, Joachim (Hrsg.): Westfälisches aus acht Jahrhunderten zwischen Siegen und Friesoythe - Meppen und Reval. Festschrift für Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag, Münster, S. 237-249
Musolff, Hans-Ulrich / Denningmann, Susanne / Bermges, Stephanie