Seit dem 18. Jahrhundert ist die nordische Mythologie und Heldensage international ein bekanntes und gern genutztes Stoffreservoir. Dagegen beschränkt sich die älteste Überlieferung dieser Stoffe im 13. Jahrhundert auf ein eher schmales Textkorpus, in dem zwei als „Edda“ bezeichnete Sammlungen die wichtigste Rolle einnehmen. Dieser eigentümliche Kontrast lenkt den Blick auf die Rezeptionsgeschichte der nordischen Götter- und Heldensage: Er wirft die Frage auf, wie aus deren spärlicher, lokal begrenzter Überlieferung in mittelalterlichen isländischen Handschriften jene weltweit fortgeschriebene Stofftradition der – meist für germanisch gehaltenen – nordischen Mythologie entstehen konnte, die in der Neuzeit gleichsam abgelöst von ihren Quellen existiert: als ein Pendant der ebenso zeitlosen klassischen Mythologie und vieler anderer Mythologien. Das Frankfurter Projekt „Edda-Rezeption“ hat diese Entwicklung, an der eine auffällige Vielzahl von Medien beteiligt ist, in interdisziplinärer Zusammenarbeit komparatistisch rekonstruiert und in exemplarischen Studien auch in ihren synchronen Bezügen untersucht. Dafür waren die Zeugnisse für die Rezeption zu erheben, in einer Datenbank zu dokumentieren und wissenschaftlich zu erschließen. Gesammelt wurden Belege für die Rezeption nordischer Mythen sowie der eddischen Texte in allen Medien und Kulturen, wenngleich mit einem Schwerpunkt auf dem skandinavischen, deutschen und englischen Sprachgebiet. Dabei ist auch eine Sammlung von Rezeptionszeugnissen entstanden („Edda-Sammlung“); systematisch archiviert wurden ferner digitale Reproduktionen der bildlichen Darstellungen nordischer Mythen sowie Kopien der einschlägigen Forschungsliteratur. Auch wenn es sich als aussichtslos erwiesen hat, die Quellenbelege auch nur annähernd vollständig zu erfassen, steht mit dieser Materialsammlung doch eine umfassende multimediale Dokumentation zur Verfügung, die die eddische Tradition von den Anfängen bis zur Gegenwart als Forschungsfeld erschließt. Dessen Potential ist durch die exemplarischen Untersuchungen im Rahmen des Projekts allenfalls umrissen. Diese Studien widmen sich aus der Perspektive von Literatur-, Religions-, Kunst- und Musikwissenschaft dem Nachleben eddischer Stoffe insbesondere in der Moderne: in der Literatur und Buchkunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, im Kontext religiöser Neubildungen des 20. Jahrhunderts, in der Musik des Heavy Metal und in der Oper, aber auch in der Alltagskultur (etwa der Produktwerbung und der politischen Propaganda) und in der Wissenschaft. Im Ergebnis erlaubt dies eine wesentlich differenziertere Beschreibung der Rezeptionsgeschichte, als das bisher möglich war. Im Ganzen ist die eddische Überlieferung mit ihrem Nachleben bis in die Gegenwart ein Paradebeispiel für Blumenbergs „Arbeit am Mythos“: Ein irgendwie als ursprünglich gedachter germanischer oder nordischer Mythos ist ausschließlich in seiner Rezeption greifbar und bereits in den ältesten Zeugnissen durch Bedürfnisse der Gegenwart geformt. Von Anfang an ist dadurch in die eddische Mythenüberlieferung eine spezifische Spannung zwischen dem Rückbezug auf das „Uralte“ und seiner Erneuerung, ja „Modernisierung“ eingeschrieben. Eben diese Spannung stimuliert die Rezeption in der Neuzeit (die so gesehen als ‚Rezeption der Rezeption‘ aufzufassen ist); dabei greifen kulturideologische und ästhetische Deutungsstrategien in einer Weise ineinander, die es stets erlaubt, die jeweilige Agenda der Mythenrezeption als „modern“ auszugeben, sei es die Überwindung des Klassizismus im 18. Jahrhundert, die Fundierung nationaler Identitäten im 19., die Kritik am politischen Blockdenken im 20. Jahrhundert oder die Abgrenzung vom sogenannten Mainstream in der Populärkultur des 21. Jahrhunderts. Bei dieser Betrachtung der Edda-Rezeption werden indessen zahlreiche neue Forschungslücken sichtbar, für deren Bearbeitung die Materialsammlung des Projekts eine ausgezeichnete Grundlage bieten kann. Sie sollte daher in naher Zukunft über ein Edda-Portal im World Wide Web der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.