Der Anachronismus in Ovids Metamorphosen als ästhetisches Verfahren
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In Abgrenzung von der häufig anzutreffenden Wahrnehmung von Anachronismen als Fehler, die einem Autor aus Unkenntnis oder Unachtsamkeit unterlaufen sind, war es das Ziel dieses Forschungsprojekts, in Ovids "Metamorphosen" die entsprechenden Abweichungen von der expliziten oder mitgedachten Erzählchronologie sowie der impliziten zeitlichen Verortung eines Handlungskontextes als eine bewusst eingesetzte literarische Technik zu verstehen und sie in ihren konkreten Formen, aber auch den damit jeweils verbundenen Funktionen näher zu beschreiben. Um diese durch einen Vergleich mit anderen Texten und Kunstwerken besser verstehen zu können, haben wir neben Bertolt Brechts und Euripidesʼ Werken auch Vergils"Aeneis" als ein zeitlich wie gattungstyplogisch nahestehendes Beispiel in den Blick genommen (die verschiedentlich präsentierten Überlegungen werden in eine vom Leiter des Projektes verfasste Monographie eingehen) und andererseits eine interdisziplinäre und internationale Tagung zum Thema "Zeitmontagen: Formen und Funktionen gezielter Anachronismen" (am 14./15. Oktober 2016) organisiert, die von der Mommsengesellschaft gefördert wurde und deren Ergebnisse als Tagungsbund publiziert wurden. Im Mittelpunkt der Arbeit stand jedoch eine entsprechende Analyse der "Metamorphosen" Ovids, die ihren Ausdruck neben mehreren Vorträgen und Aufsätzen (z.B. Geitner 2019) vor allem in der inzwischen sehr erfolgreich abgeschlossenen und auch bereits veröffentlichten Dissertation des Projektmitarbeiters gefunden hat. Dabei werden die zeitlichen Verstöße nicht nur systematisiert und in ihrer jeweiligen Funktionsweise beschrieben, sondern auch als integraler Teil des poetischen Konzepts der "Metamorphosen" aufgefasst. Sie erweisen sich dann als Gegenbewegung zur ‚Vereigentlichung‘ mythischer Weltdeutung, die sich in den konkreten Metamorphosen beobachten lässt, und leisten als zentrale Strategie der ‚Veruneigentlichung‘ einen wesentlichen Beitrag zum ästhetischen Reiz des Werkes. Als Voraussetzung hat es sich hier einerseits als nötig erwiesen, sich mit der umstrittenen Frage auseinanderzusetzen, ob ein Bewusstsein für Anachronismen im Geschichtsdenken der Antike angenommen werden kann: Eine eingehende Untersuchung der theoretischen Äußerungen wie vor allem der literarischen Praxis kann aber plausibel machen, dass diese Annahme zu bejahen ist, auch wenn natürlich Unterschiede zu anderen Epochen und ihrer Terminologie existieren und entsprechend zu berücksichtigen sind. Andererseits hat sich auch ein genauerer Blick auf die in Rom geführte Debatte zur Fiktionalität von Literatur als erforderlich herausgestellt, um von dort den Bogen zu den entsprechenden Ansätzen des 20. und 21. Jahrhunderts zu schlagen und auf dieser Grundlade ein verbessertes Interpretationsmodell entwickeln zu können. Dieses unterscheidet im Wesentlichen zwischen drei Fällen: (1) dem echten Anachronismus als einem innerdiegetischen Widerspruch, (2) der Aktualisierung als der deutlich häufigeren Form einer Gleichzeitigkeit, die in der vom Erzähler geschaffenen Welt prinzipiell möglich ist, und (3) dem poetischen Synchronismus als einem Sonderfall, bei dem zwei in Mythos oder Geschichte sonst unterschiedlich datierte Ereignisse fiktionsimmanent als gleichzeitig präsentiert werden. Sowohl die erfolgreiche Konfiguration des Analyseinstrumentes wie auch seine überzeugende Anwendung auf Ovids Metamorphosen als einem in besonderer Weise geeigneten Beispieltext können als erfolgreicher Abschluss des Forschungsprojektes gelten und zugleich verdeutlichen, worin das Potential für ein besseres Verständnis auch anderer Texten aus der Antike oder aus späteren Epochen bestehen kann, wenn Anachronismen nicht schlechthin als Versehen angesehen, sondern als ein im Kontext der entsprechenden Textästhetik intentionales ästhetisches Verfahren verstanden werden können.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Zeitmontagen: Formen und Funktionen gezielter Anachronismen, Palingenesia 116, Stuttgart 2019 [= Publikation der 7. Kleinen Mommsen-Tagung in Dresden (14.-15.10.2016)]
Dennis Pausch, zus. mit Antje Junghanß und Bernhard Kaiser (Hgg.)
- Unzeitige Gegenwart. Der Anachronismus in Ovids „Metamorphosen“, in: Antje Junghanß, Bernhard Kaiser und Dennis Pausch (Hgg.), Zeitmontagen: Formen und Funktionen gezielter Anachronismen, Stuttgart 2019, 119-141
Philipp Geitner
- Anachronismus und Aktualisierung – Überlegungen zur fiktionalen Zeitlichkeit in Ovids „Metamorphosen“, 423 Seiten, 2021
Philipp Geitner
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110735574)