Als Reaktion auf die Aids-Krise entwickelte sich in den 1980er und 1990er Jahren in der Bundesrepublik ein breites zivilgesellschaftliches Engagement gegen Diskriminierung und für eine Lebensweisen akzeptierende Primärprävention, Beratung und Empowerment von Infizierten sowie Versorgung Erkrankter. Wie formierte sich aus diesem Engagement eine soziale Bewegung? Und welche Transformationen durchlief die Aids-Bewegung bis Mitte der 1990er Jahre? Um diese Fragen zu beantworten, wurden für das Forschungsprojekt ehemalige Aids-Aktivist*innen interviewt und Recherchen in Bewegungsarchiven durchgeführt. Die Untersuchung konnte verschiedene historische Transformationsprozesse zutage fördern, die nicht nur die Mobilisierung und Aushandlung einer kollektiven Identität beflügelten, sondern diese auch immer wieder durchkreuzten, woraus interne Spannungen und Konflikte resultierten. Besonders aufschlussreich dafür war die Analyse emotional-habitueller Muster der Aids-Bewegung (oder Fraktionen derselben), welche die kollektiven Verhaltenscodes, Wahrnehmungsschemata und emotionalen Ausdrucksformen der Akteur*innen regulieren. In der Aids-Bewegung der Bundesrepublik waren diese nicht einheitlich, sondern mäanderten zwischen den Polen eines stolzen, demonstrativ unangepassten und eines dezenten, pragmatischen habituellen Musters, zwischen solidarischen und egozentrischen Emotionen. Trotz der Spannungen konstituierten sie ein zumindest temporäres „Wir“- Gefühl. In die habituellen und emotionalen Ausformungen spielte dabei bei einem Teil der Akteur*innen ein zunehmend routinierter Umgang mit der Nähe des vorzeitigen Todes hinein, wodurch soziale Zugehörigkeiten innerhalb und außerhalb der Aids-Bewegung verschoben wurden. Emotional-habituelle Muster zusammen mit translokalen Verflechtungen und framing-Prozessen sorgten, so zeigt das Forschungsprojekt, für spezifische Kollektivdynamiken. Mit dem Begriff „Kollektivdynamiken“ zielt das Projekt auf ungewusste, größtenteils unreflektierte dynamisierende Handlungslogiken, die zwischen Anstrengungen zur Erhaltung des Status quo und Veränderung desselben oszillieren. Es konnten eine Reihe von Kollektivdynamiken beschrieben werden, die in verschiedenen Phasen die Aids-Bewegung – zeitweise oder längerfristig – prägten: Spaltungsdynamik durch Radikalisierung im Auftreten auf der einen, antizipierende Anpassung an moderate Töne auf der anderen Seite; öffentliche Demonstration von Selbstbewusstsein gesellschaftlich Marginalisierter; Erhöhung der Sichtbarkeit „Positiver“; Gemeinschaftsverpflichtung und -pflege auch über Befremdungen hinweg; Distinktionen zugunsten einer pragmatisch-professionellen Bewegungskultur; Abwehr von Veränderungen; habituelle Anpassungen und Angleichungen; Verstetigung des routinisierten Umgangs mit dem Tod. Der praxiszentrierte analytische Fokus auf emotional-habituelle Muster und Kollektivdynamiken eröffnet nicht nur für die Aids-Bewegung, sondern für soziale Bewegungen allgemein ein Verständnis dafür, wie sich Bewegungsakteur*innen (weitestgehend) unreflektiert in kollektive Handlungslogiken verstricken. Für das Verständnis von Politisierungsprozessen und Mobilisierungsstrategien lässt sich daraus ableiten, dass diese zwar an bewusste Entscheidungen der Akteur*innen appellieren, jedoch die Akteur*innen auch auf der nicht-reflexiven Ebene an kollektive emotional-habitueller Muster ‚andocken‘ können müssen und sie auf diese Weise in unintendierte Kollektivdynamiken hineingezogen werden.