Das interdisziplinäre Forschungsprojekt hat sich aus einer doppelten Perspektive, aus Sicht der klassischen Philologie und der Romanistik, mit textuellen Darstellungen des aus Thagaste stammenden Kirchenvaters Augustinus in Nordafrika zunächst in der Spätantike, unmittelbar nach seinem Tod, und dann im modernen Maghreb beginnend mit der Kolonialzeit auseinandergesetzt. Dabei ist es gelungen, diese Repräsentationen des Augustinus von Hippo nicht nur vor dem Hintergrund der historischen Faktenlage zu begreifen, sondern sie im kulturellen Diskurs der jeweiligen Epoche zu verorten und in diesen Bezugnahmen auf die Gegenwart, d.h. an den spezifischen Ausformungen der Figur des Augustinus Besonderheiten festzumachen und Strategien der Aneignung zu beschreiben. Das Projekt hat herausgearbeitet, dass die Figur des Heiligen Augustinus schon in der Umbruchzeit der Spätantike einer steten Réécriture unterworfen war. Schon sein Zeitgenosse Possidius von Calama konstruiert den Kirchenvater als einen zwar dezidiert afrikanischen, zugleich aber auf die Oikoumene insgesamt blickenden Theologen, der mit seinen Schriften auch die ecclesia transmarina inspiriert und damit dem Lokalchauvinismus seiner donatistischen Landsleute eine Absage erteilt. Das literarische Schaffen des Augustinus zeichnet Possidius als Mittel der imitatio Christi, das an die Stelle des Märtyrertums tritt und in der Vita sogar größere Bedeutung erlangt als die nur selten erwähnten Wunder des Heiligen. Mit diesem Konzept reagiert Possidius, wie Kuhn gezeigt hat, auf die innere und die äußere Bedrohung der afrikanischen Kirche in der anbrechenden Vandalenzeit und sichert zugleich Nachleben seines Lehrers. Seine große Nachwirkung im europäischen Mittelalter zeigt den Erfolg dieser Strategie. Die Afrikanität des Augustinus geriet darüber in Europa allerdings in Vergessenheit. Sie wurde erst im Zuge der kolonialen Eroberung des Maghreb wiederentdeckt und im Rahmen von kulturell und politisch geprägten Erinnerungsdiskursen konstruiert und funktionalisiert wurde. Dabei hat sich herausgestellt, dass die französischen Diskurse und insbesondere Louis Bertrands Modell der Afrique latine nicht nur die Auseinandersetzung während der Kolonialzeit prägten, sondern auch einen – meist implizit bleibenden – Bezugspunkt für die postkoloniale Reflexion bilden und somit eine Scharnierfunktion für die moderne Rezeption haben. Ausgehend von Konzepten der Memory Studies und insbesondere Modellen der kulturellen Verflechtung von Erinnerungsdiskursen konnte gezeigt werden, dass der christliche Kirchenvater zu einem „mnemonic signifier“, zur Identifikationsfigur für die kolonialen Siedler gemacht wurde und umgekehrt aus der Erinnerungskultur der lokalen Bevölkerung ausgeblendet wurde. Er diente neben anderen Symbolen der Legitimation des kolonialen Aktes, der als „Rückeroberung“ eines antiken lateinischen Afrika dargestellt wurde und den muslimischen ‚Westen‘ (Maghreb) in einen europäischen ‚Orient‘ verwandelte. Dieses koloniale Bild des Augustinus als Vertreter eines lateinischen Afrika und Vorfahre der europäischen Siedler wirkte lange nach und führte zu seiner kulturellen Verdrängung, Missachtung oder sogar Bekämpfung im unabhängigen Algerien. Folglich stellt es eine erneute erinnerungspolitische Wende dar, wenn der ehemalige Staatspräsident Bouteflika den Bischof als „patrimoine naturel commun“ beansprucht, allerdings birgt auch dies Elemente der politischen Instrumentalisierung, die wiederum Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren Texte im Zentrum des Projektes standen, in ihren Texten unterlaufen. Die Auseinandersetzung mit dem Heiligen Augustinus entfaltet sich – so das Fazit – im heutigen Algerien folglich vor der Folie grundlegender Fragen des kulturellen Selbstverständnisses einer gesamten Region, die bis heute von den politischen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts und insbesondere dem schwierigen und schmerzhaften Prozess der Entkolonisierung mit Brüchen, aber auch Kontinuitäten gekennzeichnet ist.