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Augustinus-Darstellungen in Nordafrika als Formen spätantiker und postkolonialer Wissensproduktion

Fachliche Zuordnung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung Förderung von 2016 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 284325250
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt hat sich aus einer doppelten Perspektive, aus Sicht der klassischen Philologie und der Romanistik, mit textuellen Darstellungen des aus Thagaste stammenden Kirchenvaters Augustinus in Nordafrika zunächst in der Spätantike, unmittelbar nach seinem Tod, und dann im modernen Maghreb beginnend mit der Kolonialzeit auseinandergesetzt. Dabei ist es gelungen, diese Repräsentationen des Augustinus von Hippo nicht nur vor dem Hintergrund der historischen Faktenlage zu begreifen, sondern sie im kulturellen Diskurs der jeweiligen Epoche zu verorten und in diesen Bezugnahmen auf die Gegenwart, d.h. an den spezifischen Ausformungen der Figur des Augustinus Besonderheiten festzumachen und Strategien der Aneignung zu beschreiben. Das Projekt hat herausgearbeitet, dass die Figur des Heiligen Augustinus schon in der Umbruchzeit der Spätantike einer steten Réécriture unterworfen war. Schon sein Zeitgenosse Possidius von Calama konstruiert den Kirchenvater als einen zwar dezidiert afrikanischen, zugleich aber auf die Oikoumene insgesamt blickenden Theologen, der mit seinen Schriften auch die ecclesia transmarina inspiriert und damit dem Lokalchauvinismus seiner donatistischen Landsleute eine Absage erteilt. Das literarische Schaffen des Augustinus zeichnet Possidius als Mittel der imitatio Christi, das an die Stelle des Märtyrertums tritt und in der Vita sogar größere Bedeutung erlangt als die nur selten erwähnten Wunder des Heiligen. Mit diesem Konzept reagiert Possidius, wie Kuhn gezeigt hat, auf die innere und die äußere Bedrohung der afrikanischen Kirche in der anbrechenden Vandalenzeit und sichert zugleich Nachleben seines Lehrers. Seine große Nachwirkung im europäischen Mittelalter zeigt den Erfolg dieser Strategie. Die Afrikanität des Augustinus geriet darüber in Europa allerdings in Vergessenheit. Sie wurde erst im Zuge der kolonialen Eroberung des Maghreb wiederentdeckt und im Rahmen von kulturell und politisch geprägten Erinnerungsdiskursen konstruiert und funktionalisiert wurde. Dabei hat sich herausgestellt, dass die französischen Diskurse und insbesondere Louis Bertrands Modell der Afrique latine nicht nur die Auseinandersetzung während der Kolonialzeit prägten, sondern auch einen – meist implizit bleibenden – Bezugspunkt für die postkoloniale Reflexion bilden und somit eine Scharnierfunktion für die moderne Rezeption haben. Ausgehend von Konzepten der Memory Studies und insbesondere Modellen der kulturellen Verflechtung von Erinnerungsdiskursen konnte gezeigt werden, dass der christliche Kirchenvater zu einem „mnemonic signifier“, zur Identifikationsfigur für die kolonialen Siedler gemacht wurde und umgekehrt aus der Erinnerungskultur der lokalen Bevölkerung ausgeblendet wurde. Er diente neben anderen Symbolen der Legitimation des kolonialen Aktes, der als „Rückeroberung“ eines antiken lateinischen Afrika dargestellt wurde und den muslimischen ‚Westen‘ (Maghreb) in einen europäischen ‚Orient‘ verwandelte. Dieses koloniale Bild des Augustinus als Vertreter eines lateinischen Afrika und Vorfahre der europäischen Siedler wirkte lange nach und führte zu seiner kulturellen Verdrängung, Missachtung oder sogar Bekämpfung im unabhängigen Algerien. Folglich stellt es eine erneute erinnerungspolitische Wende dar, wenn der ehemalige Staatspräsident Bouteflika den Bischof als „patrimoine naturel commun“ beansprucht, allerdings birgt auch dies Elemente der politischen Instrumentalisierung, die wiederum Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren Texte im Zentrum des Projektes standen, in ihren Texten unterlaufen. Die Auseinandersetzung mit dem Heiligen Augustinus entfaltet sich – so das Fazit – im heutigen Algerien folglich vor der Folie grundlegender Fragen des kulturellen Selbstverständnisses einer gesamten Region, die bis heute von den politischen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts und insbesondere dem schwierigen und schmerzhaften Prozess der Entkolonisierung mit Brüchen, aber auch Kontinuitäten gekennzeichnet ist.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Mind the gap – the reception of antiquity in Maghrebian novels on the ancient world. In: Sampson, Mike; Pratt, Louise (Hrsgg.): Engaging Classical Texts in the Contemporary World: From Narratology to Reception Ann Arbor 2018. 213–228
    Bettenworth, Anja
  • Augustinus als Repräsentant Nordafrikas in der Vita Augustini des Possidius. RQ 114 (2019) Heft 3-4 S. 234–247
    Kuhn, Moritz
  • Philologischer Kommentar zur Vita Augustini des Possidius. Dissertation Köln 2019
    Kuhn, Moritz
  • “Zwischen Karthago, Rom und Hippo Regius: Augustinus in der nordafrikanischen und der europäischen Tradition“, in: RQ 114, 3-4 (2019) 151-158
    Bettenworth, Anja/Claudia Gronemann
  • Imitatio Christi - Introduction. In: Bettenworth, Anja, Boschung, Dietrich, Formisano, Marco (Hrsgg.): For example. Martyrdom and Imitation in Early Christian Texts and Art, S. 7–12. Paderborn 2020. (= Morphomata 43)
    Bettenworth, Anja; Boschung, Dietrich and Formisano, Marco
  • Literarisches Schaffen als imitatio Christi in der Augustinusvita des Possidius. In: Bettenworth, Anja, Boschung, Dietrich, Formisano, Marco (Hrsgg.): For Example. Martyrdom and Imitation in Early Christian Texts and Art, S. 193-214. Paderborn 2020. (= Morphomata 43)
    Bettenworth, Anja
  • Raumkonzepte und Antikenrezeption in Abdelaziz Ferrahs Roman "Moi, Saint Augustin". Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 115, 3-4 (2020). 250–267
    Bettenworth, Anja
  • “Rewriting antiquity: Saint Augustine as mnemonic figure in francophone texts of the Maghreb”. Études Littéraires Africaines 49 (2020) 189-204
    Gronemann, Claudia
    (Siehe online unter https://doi.org/10.7202/1073869ar)
  • „Augustinus als Symbolfigur der Afrique Latine bei Louis Bertrand“, in: Römische Quartalschrift 115/1-2 (2020) 63-82
    Weiser, Jutta
  • “Literarische Erkundungen dies- und jenseits von Algerien: Der Heilige Augustinus als transkulturelle Erinnerungsfigur bei Kebir Ammi”, in: Römische Quartalschrift. Zeitschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 116, 1-2 (2021) 14- 30
    Gronemann, Claudia
  • “Saint Augustine in Colonial and Postcolonial Texts of the Maghreb: Entangled Memory”. Entanglements of the Maghreb. Cultural and Political Aspects of a Region in Motion, Friederike Pannewick et al. (eds.), Bielefeld, transcript 2021, 113-136
    Gronemann, Claudia
    (Siehe online unter https://doi.org/10.14361/9783839452776-008)
  • „Aurelius Augustinus und der Süden. Geopoetische Rückeroberung des lateinischen Afrika in Louis Bertrands Sur les routes du Sud und Saint Augustin“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 45, No. 1-2 (2021)
    Weiser, Jutta
 
 

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