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Konstruktionsprozesse des "Ethnischen" in Michoacán, Mexiko und Cajamarca, Peru. Translokale Positionierungen indigener Migrant_innen unter der Kolonialherrschaft.

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2015 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 279111734
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt untersuchte die Aushandlung von Kategorisierungen in kolonialen Gesellschaften Hispanoamerikas aus einem neuen Blickwinkel: Fiskalität. Steuern stellten einen wichtigen Faktor dar, um soziale Ungleichheit zu organisieren und perpetuieren. Dies galt insbesondere in frühneuzeitlichen Imperien, die gegenüber unterschiedlichen Untertanengruppen in divergierender Weise regierten. Steuerliche Kategorisierungen hatten einen sehr konkreten Effekt auf das tägliche Leben der Kategorisierten, ihr Vermögen und ihre Arbeitskraft. Diese waren verschränkt mit sozialen Kategorisierungen wie Gender, Beruf und Alter und dem, was viele Autor*innen als „Rasse“ oder Ethnizität bezeichnet haben. Das Projekt hat gezeigt, dass es diesbezüglich zielführender ist, den Quellenbegriff „calidad“ zu verwenden, der nur in begrenztem Maße mit Ethnizität gleichzusetzen ist und der ursprüngliche Projekttitel so heute nicht mehr formuliert werden würde. Steuerliche Kategorisierungen wurden von oben durch Gesetzgebung und Registrierung verordnet, aber auch durch bislang kaum untersuchte Petitionen von unten verhandelt. Die gemeinsame Analyse beider Quellenarten in diachroner Perspektive ermöglichte ein vollständiges Bild der Ausformungs- und Wandlungsprozesse dieser Kategorisierungen. Die Forschung verglich auch synchron zwei Regionen in den beiden größten und wichtigsten Vizekönigreichen des spanischen Reiches, Peru und Neuspanien (das heutige Mexiko). Durch den Vergleich der nordperuanischen Region Cajamarca und der westmexikanischen Region Michoacán vom frühen sechzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts konnte ich überraschende Unterschiede in den fiskalischen Kategorisierungen beider Regionen aufzeigen. Während Peru stärker, aber nicht ausschließlich, ehemals vorspanische Kategorisierungen adaptierte, führte in Neuspanien die Abwesenheit ähnlich klarer vorspanischer „migrantischer“ Kategorisierungen zu Neukreationen. Diese Klassifizierungen waren entweder Subkategorisierungen des „Indigenen“, oft verbunden mit Migration oder genauer gesagt unterschiedlichen Formen von Zugehörigkeit zu Gemeinden, oder sie verwiesen auf einen divergierenden Anteil spanischer oder afrikanischer Abstammung. Mit dieser vergleichenden Analyse wurde nicht nur die bislang bereits häufiger postulierte Flexibilität der Kategorisierungen in den Blick genommen, sondern auch ihre Grenzen. Es waren gerade Personen an den Rändern der Kategorisierungen, deren Klassifikation Gegenstand von Disputen wurde. Meine Arbeiten zeigen, dass für „Migrant*innen” die Form der Zugehörigkeit und der damit zusammenhängende Zugang zu Land über ihre steuerliche Kategorisierung entschied und nicht die tatsächliche Bewegung im Raum. Dies ist auch der Grund, wieso die Bezeichnung „migrantische“ Kategorisierung nur partiell richtig ist, nicht zuletzt da viele dieser Kategorisierungen auch unabhängig von Migration vererbbar waren. Mit dieser Rekonzeptualisierung von „Migrant*innen“ leistet das Forschungsprojekt einen Beitrag zu aktuellen Debatten über translokale Zugehörigkeit und die Kategorisierung von Menschen in Bewegung. Es stellte sich heraus, dass es nicht genügte, lediglich „migrantische“ Kategorisierungen in den Blick zu nehmen, sondern auch solche „gemischter“ Abstammung. In der Gesamtschau der Petitionen aber auch verwandter Quellen zeigte sich, dass sich in der zweiten Hälfte der Kolonialzeit schrittweise eine Terminologie der Rassifizierung herausbildete. Überraschenderweise war diese Tendenz in Michoacán deutlich klarer zu beobachten als in Cajamarca. In Michoacán gab es eine sehr viel größere Nähe der Steuerpetitionen zu sogenannten „probanzas de limpieza de sangre“, rechtlichen Vorgänge, die die sogenannte „Reinheit des Blutes“ von Personen nachweisen sollten. Gerade in Michoacán war hier der stärkere Versuch zu beobachten, sich von einer afrikanischen Abstammung zu distanzieren. Steuerliche und soziale Kategorisierungen entstanden in einem Aushandlungsprozess, der die postkolonialen Gesellschaften bis heute prägt und der in der Debatte um heutige soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nicht außer Acht gelassen werden kann.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • 201: “Identidades y pertenencias en el Michoacán antiguo antes y después de la conquista”. In: Albiez-Wieck, Sarah; Roskamp, Hans (Hg.): Continuidades y discontinuidades: El Michoacán antiguo desde el surgimiento del Estado tarasco hasta la época colonial, Zamora: El Colegio de Michoacán, S. 121-141
    Sarah Albiez-Wieck
  • 2017: “Tributgesetzgebung und ihre Umsetzung in den Vizekönigreichen Peru und Neuspanien im Vergleich“. In Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 54 (1), pp. 211– 257
    Sarah Albiez-Wieck
  • 2017: ”Indigenous migrants negotiating belonging. Peticiones de cambio de fuero in Cajamarca, Peru, 17th-18th century.” In Colonial Latin American Review 26 (4), pp. 483– 508
    Sarah Albiez-Wieck
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/10609164.2017.1402233)
  • 2018: “Laboríos and vagos. Migrants negotiating tributary categories in colonial Michoacán”. In Verbum et Lingua 12 (Julio-Diciembre), pp. 45–66
    Sarah Albiez-Wieck
  • 2018: “Translocal agency in colonial societies. Categorizing and negotiating belonging of indigenous migrants in New Spain and Peru”. In: Geschichte und Gesellschaft 44 (2), S. 196-222
    Sarah Albiez-Wieck
    (Siehe online unter https://doi.org/10.13109/gege.2018.44.2.196)
  • 2018: „Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft“. In Eveline Dürr, Henry Kammler (Eds.): Einführung in die Ethnologie Mesoamerikas. Münster et.al.: Waxmann-Verlag, pp. 162–172
    Sarah Albiez-Wieck
  • 2020: Taxing Difference. Fiscal petitions negotiating social differences and belonging in Peru and New Spain (sixteenth century – nineteenth century). Habilitationsschrift. Universität zu Köln
    Sarah Albiez-Wieck
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/9789004521643)
  • 2020: “Ascendencia ‘mixta’ y categoría fiscal. Estrategias de peticionarios cajamarquinos y michoacanos, siglos XVII-XIX”. In: Sarah Albiez-Wieck, Lina Mercedes Cruz Lira und Antonio Fuentes Barragán (Hg.): El que no tiene de inga, tiene de mandinga. Honor y mestizaje en los mundos americanos. Madrid, Frankfurt am Main: Vervuert; Iberoamericana Vervuert, S. 111–162
    Sarah Albiez-Wieck
    (Siehe online unter https://doi.org/10.31819/9783964569097-005)
  • 2020: “Putting tribute into perspective Negotiating colonial obligations in seventeenth-century Peru”, In Dhau. Jahrbuch für Außereuropäische Geschichte: Empires as spaces of ordered inequality / Steuern von Differenz: Imperien als Räume geordneter Ungleichheit, herausgegeben von Sarah Albiez-Wieck, 3, S. 57-85
    Sarah Albiez-Wieck, Raquel Gil Montero
  • 2020: “The Emergence of Colonial Fiscal Categorizations in Peru. Forasteros and Yanaconas del Rey, Sixteenth to Nineteenth Centuries.” In: Journal of Iberian and Latin American Studies 54 (1), S. 1–24
    Sarah Albiez-Wieck, Raquel Gil Montero
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/14701847.2020.1717109)
 
 

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