Gedankenlesen als Kulturtechnik: Eine Genealogie des Imaginären digitaler Medien
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Wissenschaftsgeschichte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zentrale Ergebnisse des Projekts waren die inhaltliche Erweiterung der bisherigen Forschung zum Gedankenlesen sowie methodologische Beiträge. Inhaltlich konnte bislang und noch vorläufig gezeigt werden, dass in der Tat in gesellschaftlich operativen Bereichen nicht-hegemoniale Formen des Gedankenlesens referenziert wurden, wenn über die konkrete Implementierung von Gedankenlesetechniken in größeren Bereichen diskutiert wurde. Polizeibeamt*innen, Jurist*innen und Psycholog*innen grenzten sich in den allermeisten Fällen von den Gedankenlesepraktiken der Showmaster des späten 19. Jahrhunderts ab, nahmen diese jedoch auch insoweit ernst, als sie ausführliche experimentelle Forschungen dazu unternahmen. Dies gilt insbesondere für Karl Marbe, der die Würzburger »Denkpsychologie« wesentlich vorantrieb und gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Maria Zillig umfangreiche Forschungen zum Gedankenlesen unternahm. Dass die Referenz auf das wissenschaftlich nicht-akzeptierte Gedankenlesen weitestgehend negativ blieb, bedeutet jedoch nicht, dass diese Referenz zugleich unproduktiv geblieben wäre. Vielmehr entwickelten Akteur*innen des Feldes neue Ansätze durch diesen abgrenzenden Bezug auf Gedankenlesen; diese boundary work führte bei Marbe etwa zu seiner Theorie der »Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens«, die Phänomene des Gedankenlesens auf Shows statistisch erklären sollte. Damit kann die Arbeit des Forschungsnetzwerks bestätigt und weiter ausdifferenziert werden: In der Tat haben nicht-hegemoniale Praktiken im Untersuchungsfeld die Entwicklung und Modifizierung hegemonialer Praktiken des Gedankenlesens beeinflusst, aber dieser Einfluss blieb ein wesentlich negativer. Das zweite Ergebnis des Projekts ist, dass für ein Gesamtbild auch Subjektkonstruktionen in gesellschaftlich hegemonialen Bereichen berücksichtigt werden müssen, die aus Sicht der jeweilig einflussreichsten Felder legitimer Weise gedankenlesen durften. Für die WKP hat sich die zentrale Stellung der Arbeit an Subjektkonstruktionen gezeigt. Die Beamtinnen mussten zugleich die Ausübung staatlicher Macht legitimieren und sich andererseits als Agentinnen der Nächstenliebe inszenieren, ein Hiatus, den sie in den konkreten Kontexten mehr oder weniger gut überbrücken konnten. Die zugehörige Technik der Einfühlung für die WKP kann mit dem Begriff der formalisierten Empathie beschrieben werden. Die Psycholog*innen nutzten den Diskurs über das Gedankenlesen ebenfalls negativ, um Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Techniken zu definieren, mit deren Hilfe sich Wissen über die Gedanken und Gefühle anderer Menschen generieren ließ. Sie befanden sich damit in Konkurrenz zur Polizei und zum psychiatrischen Bereich und mussten darlegen sowie praktisch erweisen, dass die von ihnen entwickelten Techniken gegenüber beiden Instanzen Vorteile boten. Zugleich koalierten sie auch teilweise mit Polizist*innen, die das psychologische Wissen ihrerseits als Professionalisierungsargument ins Feld führten. Die Ausgangsfragestellung des Projekts, inwiefern Gedankenlesen einen medientechnologischen Impuls setzte, wurde somit dahingehend ausdifferenziert, als die Entwicklung neuer Medien durch Referenz auf Gedankenlesen (hier: neue Protokollierungstechniken) sich als ein Moment unter vielen darstellte, die durch einen Fokus auf das Gedankenlesen sichtbar wurden. Die oben ausgeführten Bereiche wurden, neben der Modifizierung der Medien, mindestens ebenso stark modifiziert, was durch die Fokussierung auf die nicht-hegemonialen Technik des Gedankenlesens sichtbar gemacht werden konnte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2020. Graphology in Germany in the 1920s and 1930s. Amateurs, Psychologists, and the Police on the Scientific Nature of Graphology. In: NTM 28/1
Laurens Schlicht
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s00048-020-00246-8) - 2020. Introduction. In: Laurens Schlicht, Carla Seemann und Christian Kassung (Hg.). Mind Reading as a Cultural Practice. Cham: Palgrave: 1–15
Laurens Schlicht/Carla Seemann
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-030-39419-6_1) - 2020. Reading Children’s Minds: Female Criminal Police and Psychology in Weimar Republic and Nazi Regime, the Cases of Maria Zillig and Berta Rathsam. In: Laurens Schlicht, Carla Seemann und Christian Kassung (Hg.). Mind Reading as a Cultural Practice. Cham: Palgrave: 163–189
Laurens Schlicht
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-030-39419-6_8)