Geteilte Herrschaft: Loyalitätsbrüche und -kontinuitäten im (post-)osmanischen Ordnungsraum
Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt untersuchte anhand einer bis heute politisch brisanten Fallstudie die interethnischen Beziehungen von Albaner_innen und Makedonier_innen, ausgehend vom Untergang des osmanischen Ordnungssystems und der Etablierung von Nationalstaaten bis zum Zerfall Jugoslawiens und der Entstehung der Republik Makedonien (seit 2018: Nordmazedonien). Die historisch-anthropologisch ausgerichtete Studie kombinierte struktur- und diskursanalytische Zugänge und verband demographische mit ethnographischen Verfahren, die darauf abzielten, Makro- und Mikroprozesse miteinander in Verbindung zu setzen. Ergebnisse der Forschung belegen das Fortwirken sozio-ökonomischer Strukturen, Mentalitäten und Praktiken aus der osmanischen Zeit insbesondere bei der muslimisch(albanischen) Bevölkerung bis weit in die kommunistische Zeit. Signifikante sozio-ökonomische Differenzierungsprozesse zwischen Makedonier_innen und Albaner_innen lassen sich erst nach der kommunistischen Machtübernahme ausmachen. Die Untersuchung hat gezeigt, wie eng im makedonischen Fall die sozialistische Modernisierung mit Staats- und Nationsbildungsprozessen verbunden war. Auf albanischer Seite manifestierten sich hingegen Widerstände gegen eine soziale Integration, die sich auf demographischer und sozialer Ebene (höhere Natalität, durchschnittlich größere und komplexer strukturierte Haushalte, religiös-patriarchale Autoritätsstrukturen und Geschlechterbeziehungen) sowie in unterschiedlichen Migrationsmustern (makedonische Abwanderung in die Städte, albanisches Verharren in den Dörfern bei verstärkter Arbeitsmigration ins westliche Ausland seit Anfang der 1970er Jahre) niederschlugen. Die nationalistisch motivierten Unruhen im Kosovo 1981 führten auch in der Republik Makedonien zu verschärften Maßnahmen gegen den aufkeimenden albanischen Nationalismus (sog. Differenzierungspolitik) und in der Folge zu zunehmender interethnischer Entfremdung und zur Politisierung translokaler Migrationsnetzwerke. Die Auseinandersetzungen um die politische und symbolische Teilhabe am Staat nach der Unabhängigkeit Makedoniens 1991 wurden von den ethnisch divergierenden sozio-ökonomischen Entwicklungen maßgeblich beeinflusst. Das Projekt hat weiterhin gezeigt, wie sich ideologische und ästhetische Muster der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs im sozialistischen Jugoslawien gegenüberstehen und auf welche Weise patriotischer Tourismus Gedenkrituale beeinflusst hat. Zentral war daher die Untersuchung der Beziehungen zwischen südslawischen und albanischen Gemeinschaften, aber auch der Rekonstruktionsmechanismen einzelner Darstellungselemente zum Zweiten Weltkrieg in der kollektiven Erinnerung, mit besonderem Fokus auf interethnische makedonisch-albanische Beziehungen. Das Projekt ergänzt so das Wissen über Semantiken von Grenzräumlichkeit durch eine neue Wahrnehmung und Präsentation von kulturellen Modellen und dient als beispielhafte Verifizierung der ideologischen und ästhetischen Transformationen einer systemischen Kriegsdarstellung im kollektiven Gedächtnis. Die analysierten Denkmäler sind materielle Symbole der kulturellen Grenzlandschaft, die hauptsächlich innerhalb Grenzen von ethnischen, kulturellen und politischen Kontaktzonen lokalisiert sind. Das Projekt hebt das komplexe Zusammenspiel von offiziellem und persönlichem Gedächtnis hervor und fragt, inwiefern die jeweiligen Kriegsdenkmäler überhaupt genutzt worden sind. Die hier untersuchten Denkmäler sind einzigartige Beispiele, die die sozialistischen Ideale der Grenzüberwindungen zwischen unterschiedlichen (konfliktträchtigen) kulturellen Traditionen ausdrücken. Die Omnipräsenz der Devise „Brüderlichkeit und Einheit“ (bratstvo i jedinstvo) hat in der tito-jugoslawischen Öffentlichkeit stetig zugenommen. Dies gilt nicht nur für die materielle Kultur (auch wenn sie im heutigen Kosovo aus der Öffentlichkeit verschwindet oder von einer Darstellung des Krieges von 1998-1999 substituiert wird), sondern auch für mündliche Manifestationen und kollektive Erinnerung – hauptsächlich in den sozialistisch aufgewachsenen Generationen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Blurred Areas: Albanian Migration and the Establishment of Translocal Spaces. In: South East European Studies in a Globalizing World (mit Carolin Leutloff-Grandits). Hg. Christian Promitzer, Siegfried Gruber, Harald Heppner. Wien, Berlin 2014: 173-188
Pichler, Robert
- Der schwierige Weg zurück ins Dorf: Eine Fallstudie über albanische Wirtschaftsmigranten in der Republik Mazedonien. In: Europäisierung – Globalisierung – Tradition. Herrschaft und Alltag in Südosteuropa. Hg. Klaus Roth, Wolfgang Höpken, Gabriella Schubert. München u.a. 2015: 197-214
Pichler, Robert
- The fading power of kurbet: A case study of Albanian remigrants to a Macedonian village. In: Remigration and Transformation in Post-socialist European Regions. Hg. Caroline Hornstein Tomic, Robert Pichler, Sarah Scholl-Schneider. Wien, Berlin 2018: 235- 261
Pichler, Robert
- Cross-boundary identities of the Albanian Muslims in Socialist Macedonia, In: Islam auf dem Balkan: Muslimische Traditionen im lokalen, nationalen und transnationalen Kontext. Hg. J. Telbizova-Sack, Chr. Voß. Berlin u.a. 2019: 211-226
Rogoś, Agata
- Dynamics of particular and common: Monuments and patriotic tourism in Socialist Yugoslavia – a case study of Kosovo. In: Slavia Meridionalis 19 (2019)
Rogoś, Agata
(Siehe online unter https://doi.org/10.11649/sm.1970) - La Jugoslavia nel 1918. Continuità e discontinuità culturale e linguistica. In: Il 1918 nel mondo slavo: i cambiamenti dei paradigmi culturali. Hg. M. Pliukhanova, A. Dell'Asta. Mailand 2019: 49-70
Voß, Christian