Die Vorstellungen von Pafient/innen über das Wesen, die Entstehung und die Behandlung von Krankheiten (subjektive Krankheitstheorien, kurz SKT) nehmen auf vielfältige Weise Einfluss auf den Verlauf einer Erkrankung, so z.B. auf 'Compliance' (Therapietreue) und 'Coping' (Krankheitsverarbeitung). In der Arzt/Patient-Kommunikation gilt die Verständigung über Krankheitstheorien als wichtige Voraussetzung für die Herstellung eines Arbeitsbündnisses und damit eine erfolgreiche Behandlung. Die Einbeziehung von subjektiven Krankheitstheorien erscheint umso dringlicher bei Patient/innen mit „medically unexplained symptoms" (MUS), d.h. Beschwerden, für die kein eindeufiger medizinischer Befund vorliegt (auch: „somatoforme Störungen"), oder bei der Schmerzchronifizierung, einer durch andauernde Schmerzreize verursachten Schmerzkrankheit (z.B. chronischer Gesichtsschmerz). Bei somatoformen Störungen wie auch bei der Schmerzchronifizierung haben sich die nonnalerweise als Symptome auf Erkrankungen verweisenden Beschwerden, wie z.B. Schmerzen, aus ihrer üblichen Zeichenbeziehung als Symptom für eine organische Erkrankung gelöst. Hier kommt es häufig in Folge unterschiedlicher Krankheitstheorien von Mediziner/innen und Patient/innen zu interaktiven Divergenzen, da diese Krankheitsbilder wenig bekannt sind und gegen Alltagsvorstellungen von Schmerz als Ursache-Wirkungs-Relation verstoßen. Die Studie basierte auf i) 10 Zahnarzt/Patient-Gesprächen bei Chronischen Gesichtsschmerzerkrankungen sowie 10 narrativen Interviews und ii) 10 Psychotherapiesitzungen mit Patient/innen mit somatoformen Schmerzstörungen sowie 10 narrativen Interviews. Den methodischen Bezugsrahmen bildete die konversationsanalytische geprägte Gesprächsforschung, ergänzt um inhaltsanalytische Ansätze. Bei der Untersuchung der linguistischen Formen, Strukturen und Komponenten von SKT in medizinthematischen Interaktionen (Darstellungsmitteln) und deh interaktiven Verfahren der Behandlung von SKT im Gespräch (Bearbeitungsverfahren) zeigt es sich, dass SKT im Gespräch vielfältigen Anpassungen unterliegen, z. B. an den institutionellen Rahmen, an den Interaktionstyp (Anamnesegespräch, Psychotherapie, Interview) oder das jeweilige Krankheitsbild. Im Vergleich von Arzt/Patient-Gespräch und Interview werden sehr unterschiedliche SKT derselben Patient/innen sichtbar. Als Einflussfaktoren zeichnen sich u. a. Angst vor Stigmatisierung im institutionellen Kontext, strategische Erwägungen hinsichtlich gewünschter Behandlungsmethoden oder eine Zurückhaltung bei der Übernahme der als den Ärzten vorbehaltenen Diagnosestellung. Dieses Ergebnis ist methodisch für die medizinische und psychologische Forschung hochhochrelevant, da Kontextgebundenheit von SKTs in Fragebogenerhebungen ausgeblendet wird und stattdessen als stabiles, in seinen Bedeutungsbezügen durch Befragung rekonstruierbares Modell erscheint. SKT sind selten rein somatisch oder psychisch, sondern erscheinen als individuelle Mischungen mit einer Dominanz somatischer bzw. psychosomatischer Anteile. Diese Koexistenz von teilweise widersprüchlichen Kausalattributionen im Sinne eines „sowohl-als-auch" bei Patienten wird durch den Marigel an eindeutigen Diagnosen begünstigt. Wenn Therapeuten sich dieser Mischmodelle bedienen, dann häufig, um Patienten mit einer kritischen Einstellungen psychosomatische Erklärungsansätze anzutragen. Für Patient/innen ist die eigene Glaubwürdigkeit sehr eng an Diagnosen gekoppelt und die psychosomatische Verdachtsdiagnose mit der Stigmatisierung als Simulant assoziiert. Das kann den Gesprächsverlauf so stark prägen, dass eine offene Fragetechnik des Arztes allein die Patient/innen nicht ermutigt, ihre psychosomatischen Ursachentheorien mitzuteilen. In weiteren Untersuchungen sollte geklärt werden, welchen Bedingungen die gelingende interaktive Bearbeitung von SKT im Arzt/Patient-Gespräch fördern.