Äthiopien befindet sich in dem Prozess einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation. Den lokalen Akteuren steht in (Risiko-) Situationen, wie beispielsweise in dem Umgang mit dem Problemkomplex HIV/AIDS, neben althergebrachten eine Vielzahl modifizierter oder neuer Deutungsmuster und Handlungsstrategien zur Verfügung. Die Realisierung dieser Handlungsmöglichkeiten geht einher mit intensiven, konfliktbehafteten gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. In diesem Forschungsprojekt wurde das Zusammenwirken von Prozessen gesellschaftlicher Transformation mit der HIV/AIDS-bedingten Risikowahrnehmung, -interpretation und dem daraus resultierenden Handeln untersucht. Dabei wurde angenommen, dass Menschen, die in einem höheren Maße den Prozessen einer globalen Integration ausgesetzt sind, ein stärker biomedizinisches Gesundheitsverständnis entwickeln als diejenigen, die weniger intensiv in diese Prozesse integriert sind. - Konzeptionell gründet das Projekt auf einer Verknüpfung von Livelihood-Ansätzen, die die Untersuchung der Bedingungs- und Rahmenfaktoren menschlichem Handelns im Kontext einer HIV/ AIDS-Bedrohung erlauben, und gesundheitspsychologischen Ansätzen, die es ermöglichen, diejenigen Faktoren zu identifizieren, die konkret das Gesundheitshandeln einzelner Akteure beeinflussen. In einem ersten Schritt wird die Ausprägung der Risikowahrnehmung und -interpretation von HIV/AIDS betrachtet. Es zeigt sich, dass den Akteuren eine für sie vielfältiges Angebot an Deutungsmustern bezüglich der Verbreitungsbedingungen und Schutzmöglichkeiten mit Bezug auf das HI-Virus zur Verfügung steht. Eine Veränderung von Kommunikationsnormen und -strukturen sowie alters- und geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen tragen dazu bei, dass innerhalb der Gesellschaft eine diskursive Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex HIV/AIDS zunehmend offener gestaltet werden kann, dass sich die biomedizinische Konzeptionierung von HIV als Virus verbreitet, andere Erklärungsmuster in den Hintergrund treten und Gesundheit von der Bevölkerung selbst zunehmend als das Ergebnis des eigenen präventiven und kurativen Handelns verstanden wird. - In einem zweiten Schritt wird eruiert, wie diese Veränderungen das Handeln der Akteure beeinflussen: Die Auswahl der von den Akteuren präferierten sexuellen und asexuellen HIV-Schutzstrategien steht in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Konstruktion von AIDS. Die Ausprägung eines modernen HIV-Schutzhandelns wird maßgeblich davon geprägt, inwieweit Akteure Möglichkeiten (Anlässe, Orte) haben, dieses Thema offen zu kommunizieren. Drittens stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dieses Handeln auf die gesellschaftlichen Strukturen hat. Diese Frage wird anhand der Veränderung sozialer Sicherungsstrukturen untersucht: Vereinzelt wird begonnen, tradierte Sicherungsstrukturen derart zu modifizieren, dass sie den Herausforderungen durch HIV/AIDS gerecht werden. Es kann belegt werden, dass die Ausprägung des Sozialkapitals Einfluss auf die Ausbildung eines modernen Gesundheitsverständnisses hat. Viertens wird die Bedeutung standortbedingter Kommunikationsfelder für die Herausbildung eines modernen Gesundheitshandelns untersucht. Es zeigt sich, dass der Grad der Einbindung in globale Kommunikationsnetzwerke Foren für ein modernes biomedizinisches Gesundheits- und Schutzverständnis befördern. Die soziale Kontrolle und Einbindung in soziale Netzwerke spielt eine entscheidende Rolle bei der Erklärung der beobachteten regionalen Risiko-Differenzen. Der für dieses Forschungsprojekt entwickelte theoretische Analyserahmen hat sich empirisch bewährt. Dieser wurde speziell für den HIV/AIDS-Kontext entworfen, kann jedoch grundsätzlich zur Analyse jeglicher Handlung unter Risiko-Bedingungen eingesetzt werden.