Verwundbare Gesellschaften? Eine Umweltgeschichte der Hungerkrise 1770-1772
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt hat aus umweltgeschichtlicher Perspektive die Verflechtung von Klima und Kultur in historischen Gesellschaften untersucht. Im Zentrum der Analyse standen historische Hungerkrisen, die an der Schnittstelle von naturaler Umwelt und sozialem Handeln entstehen. Sie besitzen sowohl eine biophysikalische als auch eine sozioökonomische Seite. Daher machen sie die komplexen sozionaturalen Arrangements historischer Gesellschaften besonders sichtbar. Um die bisherige Frontstellung klima- und sozialdeterministischer Modelle in der Hungerforschung (food availability decline vs. food entitlement decline) zu überwinden, nutzte das Projekt integrative Methoden wie den Vulnerabilitäts-Ansatz. Er erlaubte es, naturale und soziale Faktoren miteinander zu verknüpfen. Das Projekt wählte zudem einen Zugang „aus der Nähe“ und konzentrierte sich auf die hochauflösende Untersuchung der Hungerkrise 1770-72 in Zentraleuropa. Auf diese Wiese wurden die dynamischen Wechselwirkungen von Klima und Kultur sichtbar. Anstelle starrer Ursache- Wirkungs-Gefüge konnte das Projekt die Pluralität sozialer Reaktionen auf naturale Impulse illustrieren und die eigensinnige „Sozialisierung“ extremer Wetterereignisse deutlich machen. Es hat gezeigt, dass verschiedene soziale Gruppen die Klimaanomalie gezielt für ihre eigenen Interessen nutzten. Dadurch diente die Krise als Katalysator für die Verdichtung von Herrschaft, die Reformen des Schul- und Armenwesens oder die Etablierung neuer Wissensfelder (Ökonomie, Meteorologie, Agronomie, Epidemiologie). Einzelne Projektergebnisse haben auch in Publikumsmedien großes Interesse gefunden – etwa die strategische Nutzung der Klimaanomalie durch Friedrich II. in Preußen oder ihre Bedeutung für die Erste Teilung Polen-Litauens (1772). Im Verlauf des Projekts wurde deutlich, dass sich auch für diese frühen Extremereignisse eine überraschend dichte Datenbasis etablieren lässt. Im Bereich der naturalen Impulse reicht sie von den verschiedenen Klimaarchiven bis zu saisonalen phänologischen Daten und täglichen instrumentellen Messungen. Das soziale Handeln wiederum ist in der reichen „annonarischen“ Literatur der Zeit ebenso überliefert, wie in Egodokumenten oder Verwaltungskorrespondenzen. Zudem entstanden in der Krise eigenen Quellentypen, wie spezielle „Hungerzeitschriften“ oder Zeugnisse der materiellen Kultur (Hungermünzen, -bilder und -denkmale). Die unerwartet vielfältige Überlieferung ermöglicht Studien jenseits der früheren deterministischen Verengungen. Die entsprechenden Ergebnisse des Projekts beantworten somit nicht nur die Frage, wie die "verwundbaren Gesellschaften" der Frühen Neuzeit jene Klimaextreme, Katastrophen und Risiken bewältigten, die uns bis heute bedrohen. Sie können auch dazu beitragen, dass Feld der Umwelt (wieder) stärker für geschichtswissenschaftliche Debatten zu erschließen. Auf diese Weise schärfen sie die historische Expertise für aktuelle Debatten über die Herausforderungen der zunehmend auftretenden Klimaextreme. Das Arbeitsfeld des Projekts wird im Rahmen einer umweltgeschichtlichen Forschernachwuchsgruppe an der Universität Heidelberg weitergeführt, in der auch die globalen und paläoklimatischen Perspektiven der Untersuchung vertieft werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2013), Eine Kultur der Unsicherheit? Empowering Interactions während der Hungerkrise 1770-72, in: Kampmann, C., Niggemann, U. (Hg.): Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm, Praxis, Repräsentation. Köln, Weimar, Wien, 367-380
Collet, D.
- (2014), Hungern und Herrschen. Umweltgeschichtliche Verflechtungen der Ersten Teilung Polens und der europäischen Hungerkrise 1770-72; in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62.2, 237-254
Collet, D.
- (2014), Predicting the past? Integrating vulnerability, climate and culture during historical famines, in: Tischler, J., Greschke, H. (Hg.): Grounding global climate change. Contributions from the social and the cultural sciences. Dordrecht u.a., 39-58
Collet, D.
- (2015), Mitleid machen. Die Nutzung von Emotionen in der Hungersnot 1770-1772, in: Historische Anthropologie. Kultur - Gesellschaft - Alltag 23, 54-69
Collet, D.
(Siehe online unter https://doi.org/10.7788/ha-2015-0105) - (2015), Waren alle Hungertoten Sünder? Eine frühneuzeitliche Debatte an der Schnittstelle von Religion und Umwelt, in: Ders., Petersen, S., Füssel, M. (Hg.): Umwelten. Ereignisse, Räume und Erfahrungen der Frühen Neuzeit. Göttingen, 129-144
Collet, D.
- Famines in Austria, Germany and Switzerland – natural and societal environments, in: Alfani, G., Ò Gràda, C., Famines in Europe. Cambridge University Press, Cambridge [etc.] 2017. xi, 325 pp. Maps
Collet, D. / Krämer, D.