Sehen und Bedeuten - "Bottom Up" oder "Top Down"? Künstlerische Wirkungsstrategie im Licht neurobiologischer Forschung
Final Report Abstract
Immer wieder tritt in der kunstwissenschaftlichen Literatur eine enge Verknüpfung visueller und inhaltlicher Deutungsprozesse an die Stelle dualistischer Modelle. Weiterhin liefern zahlreiche Kunstwerke Hinweise auf eine komplexe Beziehung und gegenseitige Beeinflussung dieser verschiedenen Rezeptionsebenen. Die diesen Wechselwirkungen - und im Besonderen einer Rückwirkung der inhaltlichen Deutung eines Kunstwerkes auf seine sinnliche Wahmehmung - zugrunde liegenden Prozesse, ihre genauen Bedingungen, Auslöser und Konsequenzen entziehen sich jedoch bisher weitgehend der kunstwissenschaftlichen Analyse. Das vorgestellte Forschungsprojekt setzt hier an, indem es Erkenntnisse der Neurophysiologie in eine wirkungsästhetische Analyse mehrdeutiger Werke integriert. Es stellt sich damit auch der Frage nach den Möglichkeiten einer neurobiologisch informierten Kunstwissenschaft, beziehungsweise nach dem Potential der Neurobiologie als "Hilfsdisziplin" der Kunstwissenschaft. Im Mittelpunkt des Projektes steht die Frage nach den Bedingungen eines augenblicklichen Einflusses höherer kognitiver Prozesse auf die Verarbeitung sensorischer Reize und auf die subjektive, sinnliche Erfahrung von Kunst. Die Forschungsarbeit zielt damit zum einen auf die kritische Überprüfung einer klaren konzeptuellen Trennung von Perzeption und Kognition und linearer ("bottom-up") Modelle der Wahrnehmung. Zum anderen ist die Auseinandersetzung mit der jüngsten Forschung zur Kontrolle der Augenbewegung und Aufmerksamkeit, zur visuellen Verarbeitung und Repräsentation stets auf eine Klärung von zentralen Fragen der Wirkungsästhetik ausgerichtet. Die Ergebnisse der Untersuchung unterstützen die These einer Beeinflussung der visuellen Wahrnehmung eines Kunstwerks durch höhere kognitive Prozesse. Ausserdem sprechen die ausgewerteten neurobiologischen Forschungsergebnisse für Kontrollmöglichkeiten nicht nur der visuellen Wahrnehmung selbst, sondem auch ihrer Wechselwirkung mit anderen sensorischen Prozessen, etwa der körperlichen bzw. haptischen Erfahrung, durch höhere kognitive Funktionen. Zudem präzisieren die vorgelegten Analysen wie erhofft die der "top-down" Kontrolle zugrundeliegenen Prozesse, ihre Bedingungen und Effekte. So wird die Bedeutung des Modells der visuellen "Aufmerksamkeit" für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den dargelegten wirkungsästhetischen Fragestellungen bestätigt. Darüberhinaus fanden sich Argumente für eine grundsätzliche Kritik des Reflexbegriffs. Wahrnehmen erscheint unter diesen Vorzeichen als zielgerichtetes Verhalten. Weiter wurde auf der Basis der ausgewerteten neurowissenschaftlichen Fachliteratur ein Modell der Objektwahrnehmung erarbeitet, das zum einen eine enge Beziehung von Kognition und Sehen beschreibt und zum anderen einen neuen Zugang zu den Bedingungen der Wahrnehmung medial, beispielsweise bildlich, repräsentierter Gegenstände ermöglicht. Der erarbeitete, neurobidogisch fundierte theoretische "Werkzeugkasten" erlaubt schliesslich die Analyse von Wechselwnrkungen zwischen verschiedenen wahrgenommenen Bestandteilen eines Kunstwerks, auch zwischen Werkerfahrung und kontextuellen Faktoren. Anhand der - wahrnehmungswissenschaftlichen Experimentalbedingungen entnommenen - Konzepte der Wahrnehmungsaufgabe (task) und des Hinweises (cue) bieten sich neue Möglichkeiten der Darstellung und Erörterung künstlerischer Strategien der direkten oder impliziten Beeinflussung des Wahrnehmungsverhaltens des Betrachters und der Werkerfahrung. Dies kann die Gestattung des Werkes selbst betreffen, aber auch die der Ausstellungs- oder Betrachtungsbedingungen bis hin zu einer Beteiligung des Künstlers am theoretischen Diskurs zum eigenen Werk. Schliesslich rückt neben dem gezielten Einsatz von "top-down" Effekten durch Künstler auch die Beziehung zwischen kuratorischer Praxis, Kunsttheorie und -erfahrung in den Vordergund. Kurzgefasst legen die Ergebnisse der Untersuchung nahe, dass auch der ausstellungsbegleitende Text oder die kunsthistorische Theoriebildung die sinnliche Erfahrbarkeit von Kunstwerken in dem Moment beeinflusst, in dem sie eine Rolle bei der Aufmerksamkeitssteuerung spielt. Allgemein stärken die vorgelegten Argumente eine Kritik an einer theoretischen Naturalisierung der Sinne, an einer Generalisierung des wahrnehmenden Subjektes und ermöglichen eine neue Perspektive auf die "Historizität des Auges". Im Unterschied zu einer Beschreibung eher langsamer kulturhistorisch begründeter Veränderungen des Sehens steht mit den vorgelegten Ergebnissen zudem ein Modell zur Verfügung, das auch sehr schnelle, ja "augenblickliche", Veränderungen der subjektiven Wahrnehmung - ausgelöst durch das Kunstwerk selbst, durch kontextuelle Faktoren sowie durch fortlaufende Denk- und Deutungsprozesse - beschreibt.
Publications
- Dez. 2006: Vorlesungsreihe "Schönheit - Wert der Oberfläche". Zum Thema: Ist Schönheit sichtbar? Die Oberfläche im Werk von Joan Fontcuberta, Sonja Braas, Mark Rothko, Anish Kapoor und James Turrell. Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich
Nina Zschocke
- Sept. 2006: Image perception and interpretation. Are "top-down" processes involved in the visual appearance of an artwork? Dept. of Neurobiology, University College London
Nina Zschocke
- Feb. 2007: To see a picture. Dept. of Neurobiology, University College London
Nina Zschocke
- Illusion. In: Mythen der Kunstgeschichte. Kritische Berichte, No. 3. 2007, S.56-60
Nina Zschocke
- Kollaborieren und Plappern. Das Internet als Testfeld relationaler Ästhetik In: Paradoxien der Partizipation. 31. Das Magazin des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst (ith) Zürich, Nr. 10/11, Dezember 2007, S.77-84
Nina Zschocke
- Februar 2008: Fluctuating goals, alternating perceptions. How 'thoughts' change the visual appearance of works of art. Italian Academy, Columbia University, New York City
Nina Zschocke
- Was heisst hier "Verstehen"? - Begegnungen zwischen Kunstwerken und Menschen. In: Missverständnisse. Stolpersteine der Kommunikation. Ausst. Kat. Museum für Kommunikation Frankfurt/M & Berlin. 23.04.-05.Okt. 2008, S.160-165
Nina Zschocke