Das Projekt "Fallibilität und Fehlerkultur in der Medizin. Historische, epistemologische und ethische Dimensionen (1500-1650) / La fallibilité et la culture de l‘erreur dans la medecine: Aspects historiques, épistemologiques et éthiques (1500-1650)" wendete sich der medizinischen Fehlbarkeit als konkrete Gefahr für den Patienten und den Arzt in der therapeutischen Beziehung einerseits und als argumentativ-rhetorisches Instrument im konkurrenzbeladenen Medizinmarkt der Frühen Neuzeit andererseits zu. Die Projektarbeit konzentrierte sich dabei auf die in der medizintheoretischen, chirurgischen, forensischen und deontologischen Literatur des 16.-17. Jahrhunderts prominenten Diskussionen über ärztliche Fehler, deren Folgen und deren Vermeidungsstrategien. So bestätigte sich die Hypothese, dass in der frühneuzeitlichen medizinischen Literatur eine Fülle von Situationen beschrieben werden, die unterschiedliche Lehrmeinungen, Verfahren, Therapiekonzepte, Operationsmethoden und ethische Haltungen thematisieren und diskutieren, in denen auf die in der jeweiligen Situation begangenen Fehler hingewiesen wird. Ferner konnte gezeigt werden, dass Irrtümer und Fehler, wenn diese im Zentrum einer logischen Argumentation oder einer chirurgischen Fallbeschreibung stehen, in der Regel als evidenzstiftende Kristallisationspunkte und rhetorische Höhepunkte fungieren. Im Fokus der Projektarbeiten standen deshalb Texte, in denen die Fehlbarkeit aus ganz unterschiedlichen Spezialfeldern der Medizin thematisiert und diskursiv eingesetzt wird. Die damit einhergehenden Grundhaltungen, Zielsetzungen und Argumentationen lassen eine bisher nur punktuell erforschte Dimension frühneuzeitlicher Heilkunde aufscheinen, indem das Projekt den Fehlbarkeitsdiskurs auf koexistierende medizinische Realitäten der Vormoderne bezog, vermochte es Aufschlüsse über Konstellationen zu gewinnen, die sich in der Spannung zwischen traditionellem Gedankengut und Innovation neu konfigurieren. Aus den analysierten chirurgischen Texten etwa ist deutlich geworden, dass die komplexe Thematik der Fehlerdeutung (Ursache, Urheber, Ausmaß des Schadens, begünstigende Faktoren, Vorbeugung) auf unterschiedlichen narrativen Ebenen verhandelt wird. Nicht nur die Analyse der Fallbeschreibungen oder der Questiones unter den angeführten Problemstellungen, sondern vor allem der Blick auf das Ensemble (wie im Falle Fabrys von Hilden oder Santorio Santorios), ihre Vorlagen und ihre Rezeption sowie auf die Paratexte zeigte die Versatilität und Einsetzbarkeit, das Potential und die Nachwirkung des Fehlerdiskurses. Besonderes Ziel der Arbeit war eine Aufwertung des vormodernen Fehlbarkeitsdiskurses als prominenter Bestandteil der medizinischen Kultur. Es konnte gezeigt werden, dass sich in den Kontexten, in denen Mediziner über Fehler berichten, diskutieren oder theoretisieren, Problembereiche, Grenzregionen, Kompetenzfragen und Konkurrenzkonflikte erkennen und neu definieren lassen. Medizinische Fehlbarkeit in der Frühen Neuzeit war und bleibt ein hoch produktives und mannigfaltig einsetzbares Diskursfeld.