Audiovisuelle Kulturen der Selbstthematisierung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Projekt „Audiovisuelle Kulturen der Selbstthematisierung“ wurden computervermittelte Kommunikationsprozesse in ihren soziotechnischen, ökonomischen und institutionellen Zusammenhängen untersucht. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Beobachtung, dass im Zuge der digitalen Mediatisierung der Alltagswelt neue Formen audiovisueller Selbstthematisierung entstanden sind, in denen schriftgebundene und mündliche durch (audio-)visuelle Gestaltungsformen ergänzt und ersetzt werden. Ziel der Studie war es zu untersuchen, welche Formen und mit ihr Funktionen der Selbstthematisierung sich im Zuge der Ausweitung der neuen digitalen und ‚interaktiven’ Medien herausbilden. Empirischer Gegenstand der Untersuchung sind audiovisuelle Selbstthematisierungen, zu denen sogenannte Videoblogs, Videotagebücher und auch mehr oder weniger ‚offizielle‘ Selbstdarstellungen gehören. Ungefähr 300 dieser Video und ca. Fotographien fanden Eingang in das Korpus der Untersuchung, aus dem anschließend eine kleinere Anzahl (ca. 50 Videos) für Feinanalysen im Rahmen qualitativer Methoden sozialwissenschaftlicher Bild- und Diskursanalyse untersucht wurden: diese 'visuelle Diskursanalyse' von computervermittelter audiovisueller Kommunikation wurde durch Feldforschung auf face-to-face Veranstaltungen ergänzt. Die Untersuchung verlangte dabei die Weiterentwicklung qualitativer Forschungsmethoden, die in die Formulierung einer 'Visuellen Diskurs- und Medienanalyse' mündete: Mit ihr kann die Formation von (multimodalen) Sichtbarkeiten im Zusammenspiel von soziotechnischen Arrangements (Internet, Webvideo-Anbieter) und verkörpertem Akteurshandeln rekonstruiert werden. Die 'Webvideos' konnten auf diese Weise als arbeitseilig produzierte Artefakte untersucht werden, bei deren Herstellung sich Nutzer als Kulturproduzenten und Publikum der technischen Infrastruktur bedienen, zugleich aber – als 'Amateure' – aufgefordert sind, sich mit deren soziotechnischen Spezifikationen auseinanderzusetzen. Dabei hat sich gezeigt, dass die aktiven Amateure des Internet, insbesondere jene, die kommunikative Techniken der kollektiven Selbstverständigung (face-to-face-Treffen, Videotelefonie, Gründung von informellen und formalen Organisationen wie Vereinen) beherrschen, in die Lage versetzt sind, die netzbasierten Technologien selektiv zu nutzen – und dadurch deren Kommunikations- und Anerkennungsregime in ihrem Sinn ausgestalten. Dabei unterliegen die Amateure allerdings milieu- und geschlechtsspezifischen Kompetenzzuschreibungen, die ihre Chancen auf Sichtbarkeit vergrößern oder schmälern. Mit diesen ungleich verteilten Chancen auf selbstbestimmte Techniknutzung sind jeweils differente Selbstdarstellungsformen verbunden: Eine Ästhetisierung des eigenen Selbst (schön sein, sich mit Typiken der Selbstdarstellung auskennen) ist in allen Gruppen vorzufinden; sie wird aber dort besonders intensiv verfolgt, wo keine alternativen Kompetenz- und Bildungsressourcen mobilisiert werden können. Die Darstellung eines Selbst, das besondere Kenntnisse hat, ist eine zweite, ebenso zentrale Form der Selbstthematisierung, die im Rahmen des öffentlichen Diskurses über digitalen 'Narzissmus' nicht ausreichend berücksichtigt wird. Drittens stellen sich die Amateure als Personen vor, die berufliche oder kulturelle Ambitionen verfolgen und dazu in kommunikativ dargestellte Bildungsprozesse eintreten. Hier zeigen sich die Wirkungen eines bio- und psychopolitischen Dispositivs computervermittelter Selbstdarstellung im „Web 2.0“, in denen sich Individuen als kommunikations- und aktivierungsbereit zeigen müssen. In allen drei Gestalten des Selbst kommt eine neuartige Wissenspolitik der Grenzziehungen zum tragen. Wenn Individuen – oder seltener: Gruppen sich in den 'sozialen Netzen' selbst darstellen wollen, müssen sie eine Bereitschaft zur Selbstästhetisierung, zur Darstellung des eigenen Könnens und zur sozialen Mobilität inszenieren. Andererseits können sie mit diesen Techniken der Selbstdarstellung auch bislang wenig anerkannte oder marginalisierte Lebensweisen und Kompetenzen zur Sichtbarkeit und Anerkennung verhelfen. Über das Projekt und seine Ergebnisse berichteten bislang unter anderem der Österreichische Rundfunk, Deutschlandfunk, Technology Review Deutschland, TU Intern, und der BMBF auf seiner Präsenz zum Wissenschaftsjahr 2014.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2012): Drei Bauformen audiovisueller Diskurse. Zur Kuratierung und Zirkulation des Amateurvideos. In: Petra Lucht, Lisa Schmidt, René Tuma: Visualisierung von Wissen und Bilder des Sozialen. Wiesbaden: VS. 281-302
Traue, Boris
- (2013): Medien des Selbst im Coaching und in digitalen Räumen. In: Sozialwissenschaften und Psychotherapie, 15, 2, 67-91
Traue, Boris
- (2013): Visuelle Diskursanalyse. Ein programmatischer Vorschlag zur Untersuchung von Sicht- und Sagbarkeiten im Medienwandel. In: Zeitschrift für Diskursforschung, 2, 1, 117-136
Traue, Boris
- (2014): Communication Regimes and Creativity. In: Marc Jacobs, Hubert Knoblauch, René Tuma (Hg.): Culture, Communication, and Creativity - Reframing the Relations of Media, Knowledge, and Innovation in Society. Frankfurt a. M.: Peter Lang. S. 227-246
Traue, Boris
- (2014): Resonanzbild und ikonische Politik. Eine visuelle Diskursanalyse partizipativer Propaganda. In Michael Kauppert & Irene Leser (Hg.): Hillarys Hand. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Bielefeld: transcript. S. 131-156
Traue, Boris
- (2014): Visueller Aktivismus und affektive Öffentlichkeiten: Die Inszenierung von Körperwissen in 'Pro-Ana' und 'Fat acceptance'-Blogs. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 39, 1, Suppl., S. 121-142
Boris Traue & Anja Schünzel
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11614-014-0134-6)