Untersuchung der Werkstoffgesetze von S460 N und S460M während einer Brandeinwirkung, v.a. in instationären Warmkriechversuchen
Final Report Abstract
Die rechnerische Bewertung der Tragfähigkeit von Stahlbauten im Brandfall ist nur bei genauer Kenntnis des mechanischen Materialverhaltens unter erhöhter Temperatur möglich. Der EUROCODE 3-1-2 (2010) stellt für die Baustahlsorten S235 bis S460 einheitliche Spannungs-Dehnungsbeziehungen bis 1200 °C zur Verfügung. Bisher existierten für die hochfesten Feinkornbaustähle S460 diesbezüglich jedoch nur sehr wenige und stark voneinander abweichende Versuchsergebnisse, die zum Teil deutlich ungünstiger ausfielen als die derzeit gültige normative Regelung. Zudem wurde der Einfluss der chemischen Zusammensetzung und des Herstellprozesses auf die Hochtemperatureigenschaften von S460 bislang kaum systematisch untersucht und herausgearbeitet. Der Einfluss unterschiedlicher Aufheizgeschwindigkeiten auf die zeitabhängigen Dehnungsanteile wurde für diese Baustahlsorte noch nicht gezielt untersucht. Die bei Stahl unter erhöhter Temperatur ab ca. 450 °C in relevanter Größenordnung auftretenden Kriechdehnungen müssen in geeigneter Weise bei der Modellierung des Materialverhaltens im Brandfall berücksichtigt werden. Bisher erfolgte dies auf zwei unterschiedlichen Wegen. Eine Möglichkeit besteht darin, die zeitunabhängigen Spannungs-Dehnungsbeziehungen in stationären Zugversuchen und die Kriechdehnungen in stationären Zeitstandversuchen zu bestimmen und beide Dehnungsanteile additiv zu berücksichtigen. Der wesentliche Nachteil dieser Methode besteht darin, dass sich das Werkstoffverhalten von Baustahl im thermisch instationär verlaufenden Brandfall durch stationäre Versuche nur bedingt abbilden lässt. Alternativ können, wie im Rahmen des Bemessungskonzeptes nach EUROCODE 3-1-2 (2010), die Werkstoffgesetze aus instationären Warmkriechversuchen abgeleitet werden. Diese enthalten implizit bereits einen gewissen Kriechdehnungsanteil, welcher von der im Versuch verwendeten Aufheizgeschwindigkeit abhängt, und sind deshalb streng genommen auch nur für diese Aufheizgeschwindigkeit gültig. Eine Möglichkeit zur expliziten Berücksichtigung der Kriechdehnungen auf der Grundlage instationärer Versuchsergebnisse existierte bisher nicht. Im Rahmen des geförderten Forschungsvorhabens wurden umfangreiche experimentelle Untersuchungen, vorwiegend in Form instationärer Warmkriechversuche, an sieben auf dem deutschen Markt erhältlichen, hochfesten Feinkornbaustählen der Lieferzustände N (normalgeglüht / normalisierend gewalzt) und M (thermomechanisch gewalzt) sowie einem thermomechanisch gewalzten Druckbehälterstahl P420M durchgeführt. Zunächst wurden alle Versuchswerkstoffe in Warmkriechversuchen mit einer Aufheizgeschwindigkeit von 10 K/min getestet und aus den Ergebnissen die Spannungs-Dehnungsbeziehungen in Stufen von je 100 °C bis zu einer Maximaltemperatur von 800 °C konstruiert. Hierdurch wurde die existierende Datenbasis hinsichtlich des mechanischen Verhaltens von S460 im Brandfall gegenüber dem bisherigen Kenntnisstand deutlich erweitert. Anschließend wurden, getrennt nach den Lieferzuständen N und M, die Spannungs-Dehnungsbeziehungen für jede Temperaturstufe auf der Grundlage der Versuchsergebnisse des jeweils schwächsten Stahls des betrachteten Lieferzustandes analytisch formuliert. Hierdurch wurde ein Vergleich des Verhaltens der beiden untersuchten Lieferzustände miteinander und mit den normativen Vorgaben ermöglicht. Dieser zeigte über weite Temperatur- und Dehnungsbereiche eine höhere Festigkeit der thermomechanisch gewalzten Stähle gegenüber den normalisierend gewalzten Versuchsmaterialien. Der Vergleich mit den Werkstoffgesetzen nach EUROCODE 3-1-2 (2010) ergab für beide Lieferzustände bereichsweise deutliche Unterschreitungen der normativen Vorgaben. In einem zweiten Arbeitsschritt wurden an drei Versuchsmaterialien instationäre Warmkriechversuche mit konstanten Aufheizgeschwindigkeiten zwischen 3 und 30 K/min durchgeführt. Auf der Grundlage dieser Versuchsergebnisse wurde ein empirisches Kriechgesetz für den Brandfall hergeleitet, das auf dem Prinzip der temperaturkompensierten Zeit θ beruht und die beiden Variablen Temperatur und Zeit über die ARRHENIUS-Gleichung miteinander verknüpft. Durch die Einführung eines variablen Exponenten n = f(σ, θ), der das Auftreten eines Wendepunktes im analytischen Kriechdehnungsverlauf bewirkt, stellt es eine Erweiterung des Kriechgesetzes von Dorn 1955 auf den tertiären Kriechbereich dar. Es ermöglicht erstmals die exakte Berücksichtigung der während eines Brandverlaufs auftretenden Kriechdehnungen in den Spannungs-Dehnungsbeziehungen unter ausschließlicher Verwendung instationärer Versuchsergebnisse. Die Erweiterung auf veränderliche Spannungsverläufe ist beispielsweise mit Hilfe der Dehnverfestigungsregel möglich. Durch die Anfertigung von Schliffbildern und Mikrohärtemessungen wurden sowohl die Unterschiede in den Ausgangsgefügen der Versuchsmaterialien als auch die Auswirkungen einer kombinierten, instationären thermisch-mechanischen Belastung auf die Werkstoffgefüge untersucht. Es konnten deutliche Unterschiede in den Ausgangsgefügen vor allem der thermomechanisch gewalzten Stähle sowie unterschiedliche Grade an Gefügeveränderungen infolge der kombinierten Belastung festgestellt werden. Zusätzlich wurden die Bruchbereiche der kombiniert belasteten Probekörper näher betrachtet. Die Bruchform deutete in allen Fällen nicht auf einen typischen interkristallinen Kriechbruch, sondern auf einen transkristallinen Bruch im Übergangsbereich vom Kriech- zum Duktilbruch hin. Abschließend wurden die aus den metallographischen Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der Ausgangsgefüge und der auftretenden Gefügeveränderungen sowie die Informationen über die chemische Zusammensetzung der Versuchsmaterialien mit deren unterschiedlichem mechanischem Verhalten unter erhöhter Temperatur in Beziehung gesetzt. Zunächst konnten das Versetzungskriechen und die konventionelle plastische Verformung als die dominierenden Verformungsmechanismen von S460 im Brandfall identifiziert werden. Daraus konnte der günstige Einfluss einer verzerrten, unregelmäßigen Kornform und nadeliger, ferritisch-bainitischer Gefügebestandteile mit erhöhter Versetzungsdichte, wie sie beim thermomechanischen Walzen mit anschließender beschleunigter Abkühlung entstehen, auf das mechanische Hochtemperaturverhalten abgeleitet werden. Hieraus erklärt sich das i. A. günstigere Verhalten der Stähle des Lieferzustandes M. Ferner konnte für beide Lieferzustände die positive Wirkung einer kombinierten Legierung mit den Mikrolegierungselementen Niob und Vanadium aufgezeigt werden. Des weiteren ließ sich schlussfolgern, dass sich die geringe Korngröße insbesondere der thermomechanisch gewalzten Feinkornbaustähle höchstwahrscheinlich nicht negativ auf deren zeitabhängiges Materialverhalten im Brandfall auswirkt, da die dadurch begünstigten Mechanismen des Diffusionskriechens unter einer so kurzzeitigen Temperaturbeanspruchung eine vernachlässigbar geringe Rolle spielen. Diese Ergebnisse ermöglichen die gezielte Optimierung der hochfesten Feinkornbaustähle hinsichtlich ihres mechanischen Hochtemperaturverhaltens.
Publications
- Hochtemperatur-Werkstoffgesetze von S460 – Neue Forschungsaspekte. In: IfSW, TU Darmstadt ; Bauen mit Stahl (Veranst.) ; Lange, J. (Hrsg.): Brandsicher bauen mit sichtbarem Stahl : Tagungsband. 4. und 5. Juni 2008, Darmstadt 2008. – ISBN 978-3-939195-11-5
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- Constitutive equations of structural steel S460 at high temperatures. In: Lulea University of Technology ; Swedish Institute of Steel Construction (Hrsg.): Nordic Steel Construction Conference : Proceedings. September 2-4, 2009, Malmö, Schweden 2009. Publication 181, First Edition. – ISBN 91-7127-058-2
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- Constitutive Equations and Empirical Creep Law of Structural Steel S460 at High Temperatures. In: Kodur, V. K. ; Franssen, J.-M. (Hrsg.): Sixth International Conference Structures in Fire : Proceedings. June 2-4, 2010, Michigan State University, East Lansing, Michigan, USA 2010. – ISBN 978-1-60595-027-3
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